Der Sexsammler

Magnus Hirschfeld war den Nationalsozialisten besonders verhasst: ein jüdischer Sexualforscher und Inspirator der politischen Bewegung der Homosexuellen in der Weimarer Republik. Heute vor siebzig Jahren starb der wichtigste Gender-Aufklärer des frühen 20. Jahrhunderts in seinem südfranzösischen Exil in Nizza

VON RALF DOSE & JAN FEDDERSEN

Das war für den Spross einer bildungsbürgerlichen Arztfamilie aus dem Pommerschen ganz unziemlich: über das pralle Leben zu schreiben, unverblümt, reportagehaft, wahrhaftig. Ein liberal gesinntes Elternhaus hatte er, doch zugleich war es, jüdisch, aufstiegsorientiert und dem gesellschaftlichen Comment verpflichtet.

Doch Magnus Hirschfeld wollte und konnte nicht anders: Er sammelte und notierte, berichtete und schrieb, beginnend Ende des vorvorigen Jahrhunderts. Damals hatte Deutschland noch einen Kaiser, der Erste Weltkrieg war noch weit, die bürgerlichen Stände suchten den Aufstieg, der Adel fürchtete um Privilegien, und Berlin war das Dorado aller, die unkonventionell leben wollten. Männer, die Frauenröcke trugen; Frauen, die männliche Kleidung bevorzugten; Männer, die wie Frauen zu fühlen meinten; Frauen, die beim Anblick einer anderen Frau in Wallung gerieten. Und Magnus Hirschfeld, so hieß der Chronist, schrieb sein Buch „Berlins drittes Geschlecht“.

Ein Essay, wunderbar und lebendig noch heute zu lesen, aus der Feder eines akribisch wahrnehmenden Flaneurs, der sich allerdings nicht auf Beobachtungen auf den Boulevards beschränkte, sondern die dunkle Seite des Mondes zu erkunden suchte – in Kaschemmen, Eckkneipen, auf öffentlichen Toiletten, in Grünanlagen, in den Hinterzimmern von Cafés und verschatteten Eingängen von Seitenstraßen. Und resümierte: „Keine Übeltäter hier, keine Verbrecher an der Person, keine Verbrecher am Eigentum. Unglückliche, Entrechtete, die den Fluch eines geheimnisvollen Rätsels der Natur durch ihr einsames Leben schleppen. Menschen, die sich im Kampf des Tages ihre geachtete Stellung erobert haben. Redlich arbeitende, deren Ehrenhaftigkeit niemand anzweifelt, deren Wort und Name seine gute Geltung hat; und die sich doch unter dem Druck eines mittelalterlich grausamen Gesetzesparagrafen scheu und heimlich zusammenfinden müssen, fern von den normalen Glücklichen ihre stets vom Gesetz, von der Verachtung, von der Erpressertücke gefährdeten unbesiegbaren Triebe den Gleichfühlenden einzugestehen.“

Alles, was Magnus Hirschfeld, ein Außenseiter auch in der Bohème der Weimarer Republik, berühmt machen sollte, ist in seiner Reportage über das Berlin der „sexuellen Zwischenstufen“ (so sein Begriff von allem, was der heterosexuell-bürgerlichen Norm nicht entsprechen konnte) geborgen: das quirlige, morgenlose Leben in den Nächten; die Verstecktheit im traditionsbürgerlichen Rahmen – und der Anspruch wie die Kampfansage, Diskriminierungen zu beseitigen. Rechtliche zunächst, denn der Paragraf 175 verbot männliche Homosexualität, von weiblicher war ohnehin keine Rede, man erachtete sie als unwichtig, empfand sie keinesfalls als Bedrohung.

Und wie er mit diesem Programm erfolgreich war. Veröffentlichte Bücher, kungelte mit Abgeordneten, schrieb Petitionen an Parlamente, war an dem Filmprojekt „Anders als die anderen“ beteiligt und warb für die Sache, die ihm zu unterdrücken nicht einleuchtete, weil sie nicht zu unterdrücken war. Nahm Häme hin, schmerzlich spürend, nie Teil ehrenwerter bürgerlicher Kreise zu werden, war gar Opfer eines Überfalls rechter Terroristen Anfang der Zwanzigerjahre, verzichtete auf eine klassisch-angepasste Karriere als Mediziner, verließ sich, von den Eltern akkurat darauf hin erzogen, auf seinen Eigensinn und konnte Erfolg haben – auf gewisse Art ein Gendertheoretiker vor der Zeit.

Er und seine MitstreiterInnen hatten es 1929 immerhin geschafft, den Strafrechtsausschuss des Reichstags davon zu überzeugen, den „Schandparagrafen“ zu tilgen: Die Machtübernahme der Nationalsozialisten vereitelte dies schließlich, doch auch die Konservativen, Deutschnationalen und Rechtsliberalen wollten am Ende nicht für eine Liberalisierung einstehen, die im Bewusstsein von Christen eine schwere Sünde war und Rechten dem Untergang des Abendlands gleichkam.

Kein Wunder, dass Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft von nationalsozialistisch aufgewühlten Horden überfallen wurde – geplündert die gesamte Bibliothek des Hauses, symbolisch einen Teil bei der Bücherverbrennung vernichtet, zerstört die Berichte der Ratsuchenden und Patienten, vertrieben die Bewohner des Instituts, das ungefähr dort lag, wo heute, genau gegenüber vom Kanzleramt, das Haus der Kulturen steht.

Es war das Symbol dessen, was die neuen Machthaber verachteten und, was ihnen auch gelang, vernichten wollten: ein Wissen um das Sexuelle wie ein Bewusstsein für das Amorphe menschlicher Lüste. Mit dem Blick von heute könnte man sagen: Hirschfelds Institut war die Denkfabrik einer Queer Nation, in der alles gesammelt und wahrgenommen wurde, was Menschen so treiben, wenn man sie lässt und sie es partout nicht lassen wollen.

Hirschfelds Leistung war, dieses „Material“ zu sammeln und zu sichten – wie ein Echolot, dem nichts entgehen soll. Eine moralische Haltung hatte er kaum. Er verstand sich als Humanist, der jüdische Deutsche, der nicht religiös war und irgendwie doch glaubte, dass Gott die Vielfalt schon eingerichtet hat. Und wer kein Gott ist, so ist sein Credo überliefert, soll auch nicht ändern, was die Natur so eingefädelt hat. Natur? Ein fragwürdiger Begriff – aber für Hirschfeld und die Seinen nützlich, um der Stigmatisierung Homosexueller vor allem im Strafrecht ein Ende zu setzen.

Die gewöhnliche bürgerliche Argumentation war – durchaus aufgehoben in dem, was die israelische Soziologin Shulamit Volkov heute als „antisemitischen Code“ der bürgerlichen Klassen Deutschlands begreift –, dass menschliche Sexualität Gesundes und Krankes, Artiges und Abartiges umfasst. „Widernatürlich“ war, wer dem Heterosexuellen nicht entsprach. Und dies müsse entweder bestraft oder zumindest geheilt werden. Pönalisiert, um der gesellschaftlichen Norm etwas Drohendes zu verleihen; psychiatrisiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: ein darwinistisches Verständnis von Natur, in dem kein Platz für Nutzloses sein kann. Der Nutzen, und auf den kam es an: Fortpflanzung. Der Mensch als formbares Objekt, die Gesellschaft als Matrix von Humaningenieuren.

Strafandrohung schien auch deshalb nötig, weil der bürgerliche Diskurs jener Jahre (und in konservativen Kreisen bis heute) von einer Ansteckungsgefahr ausging: Homosexuelle als Subjekte, die qua Existenz zum Normbruch ermutigen. Hirschfeld drehte diese Argumentation um: Wenn man die Natur akzeptiere, dann müsse er, mit seiner Empirie im Rücken, anfügen, dass die Natur Homosexuelle „geschaffen“ habe: Und was die Natur hervorbringe, könne nicht verändert werden.

Nur deshalb erfand der gelernte Arzt und Naturheilkundler „Das dritte Geschlecht“ – nicht Mann, nicht Frau, sondern irgendetwas dazwischen. Mit dieser „Theorie“ konnte Hirschfeld – wie Jahrzehnte später, nicht weniger skandalös, in den USA Alfred Kinsey –, nur bedingt Allianzen mit liberalen Kreisen schließen. Die kommunistische wie sozialdemokratische Boheme unterstützte den Kampf gegen den Paragrafen 175, zumal ihnen die Idee vom dritten Geschlecht nicht die eigene Welt zerstörte: Vor allem in der KPD kultivierte man das Bild vom starken Genossen, an dessen Seite das saubere Mädel der Sonne entgegenschritt. (Den Völkischen war alles so oder so ein Dreck: Sexuelle Zwischenstufen waren Dekadenzphänomene, Zeugnisse des verweichlichten Liberalismus.)

Anhänger fanden die Homokämpfer auch in der psychoanalytischen Bewegung nicht: Freud unterzeichnete zwar einmal eine Petition gegen die Strafbarkeit von Homosexualität, und seine Vorstellung vom polymorph-perversen Wesen, das der Mensch als Kind noch ist, wurde in den Kreisen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees wohlwollend zur Kenntnis genommen. Doch auch die Freudianer mochten nicht von der fixen Idee lassen, Nonheterosexuelles sei therapierbar – und das war, für alle Strömungen der Homobewegung, komplett inakzeptabel: Wo eine Therapie möglich scheint, ist der Zwang zu ihr auch nicht fern – so waren die Machtverhältnisse damals.

Anfang April warf ein Autor in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Hirschfeld vor, mit seinen theoretischen Annahmen im intellektuellen Mainstream kräftig mitgekrault zu haben. Er sei ein Vertreter der Eugenik und außerdem Antisemit gewesen – worin die Unterstellung liegt, der jüdische Mediziner sei im Grunde selbst mitschuldig geworden am mörderischen Wahn der Nationalsozialisten.

Tatsächlich war Hirschfeld unempfänglich für jene Erwägungen, die Hannah Arendt in den Sechzigerjahren anstellte: Was ist am Jüdischen, was die Nichtjuden rasend macht? Der Promotor der Weimarer Homosexuellenbewegung glaubte faktisch an die Kraft der Moderne, daran, dass die antisemitischen Stereotype schon verschwinden würden, wenn man sie als unbegründete Ressentiments entlarvte. Dass Vorurteile an Dekonstruktion jedoch keine Not leiden, dass es sie gibt, weil sie geglaubt werden sollen, entging Hirschfeld: Aber ist das schändlich? Und ein Eugeniker? Nicht mehr und nicht weniger als andere sozialdemokratische Mediziner seiner Zeit. Seine (phänomenologisch ja einleuchtende) Konstruktion von den „sexuellen Zwischenstufen“ und die Vision eines gesunden Menschengeschlechts sollten emanzipatorisch wirken, waren kein Gespinst der Gegenaufklärung, kein Vademekum zur (tödlichen) Auslese.

Dass Hirschfeld sich auf psychoanalytische Befunde nicht weiter einließ, mag misslich sein. Er hätte begreifen können, dass der nationalsozialistische Hass auf die sexuellen Zwischenstufen einem tief wurzelnden Horror vor dem Weichen, einer Antithese zur antisadistischen Lust wie zur Ästhetik der Sachlichkeit entsprang.

Wer will, kann Hirschfeld als Chronisten einer bunten, sich selbst überlassenen Welt sehen; einer Welt, die ohne eine große Erzählung (Judäochristentum, Nationalsozialismus oder Kommunismus) bunter wird, weil in ihr Fantasien von der menschlichen Natur keine Macht haben.

Ebendies haben freisinnige Intellektuelle an Hirschfeld und seinem Institut auch geschätzt; Berlin war auch durch diesen Mediziner die Hauptstadt der World Queer Nation. Walter Benjamin, Kurt Tucholsky und Thea Sternheim erwähnten ihn in ihren Schriften gern. Wichtiger noch: Das Institut für Sexualwissenschaften war bei Berlinern beliebt und geschätzt. Nur dort erhielten sie vorurteilsfrei Beratung zu Intimstem, Peinlichstem. Dort wurden sie nicht belehrt, sondern ermutigt, so zu sein, wie sie sein wollten – von Pädosexuellen abgesehen, die Hirschfeld weniger schätzte und die er ausdrücklich nicht meinte, wenn er von der Abschaffung von Strafbestimmungen sprach.

Hirschfeld, dessen „Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen“ immer noch eines der besten Zeugnisse jener durch die Nationalsozialisten getöteten Ära sind, ging 1930 mit Freunden auf eine Weltreise. Er schien zu ahnen, dass es ein Abschied von seiner Heimat werden würde.

Eine Tragödie auch für ihn, dass das Archiv seines Instituts zerfleddert wurde. Seine Versuche, im Pariser Exil mithilfe seiner Freunde Karl Giese und Li Shiu ein neues Institut zu gründen, scheiterten. Sein Leitspruch – per scientam ad justitiam: durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit – war hinfällig geworden. Von dieser Reise kam Hirschfeld, der in den letzten Jahren der Weimarer Republik wieder mehr zum „Juden“ wurde, nicht wieder nach Hause.

Der Paragraf 175 sollte noch sehr lange im bundesdeutschen Strafgesetzbuch stehen; bis 1969 galt sogar noch die entgrenzte Fassung der Nationalsozialisten. Das Bundesverfassungsgericht erkannte in der Verfolgung von Schwulen im Deutschland des braunen Regimes kein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht. Eine Welt, wie Hirschfeld sie vermaß, bunt, schillernd, amorph, pervers, ausprobierend, frei, gibt es in Berlin erst seit wenigen Jahren wieder. Heute vor 70 Jahren, an seinem 67. Geburtstag, ist Hirschfeld gestorben.

Eine nach ihm benannte Stiftung, die sich der Erforschung des sexuell Bunten widmen sollte, ist in der vorigen Legislaturperiode parlamentarisch gescheitert. Die mit Bundesmitteln auszurüstende Denkfabrik würde seine Arbeit fortsetzen: Es wäre ein echtes Zeichen von Dank an einen, der die europäische, westliche Moderne zu begründen suchte.

RALF DOSE, Jahrgang 1950, ist Geschäftsführer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin. Kürzlich erschien von ihm das Buch „Magnus Hirschfeld. Deutscher – Jude – Weltbürger“, Band 15 der Jüdischen Miniaturen im Verlag Hentrich & Hentrich in Berlin; JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur und alles in allem froh, in einem bunten Berlin zu leben, das auch Magnus Hirschfeld gefallen hätte