„Vielen Dank für Ihre Mitarbeit“

Zwei Tage lang wurde in Berlin intensiv und auf vielerlei Arten an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 60 Jahren erinnert – mit Demonstrationen, Diskussionen, Kranzniederlegungen und einer Lichterkette. Chronik eines Gedenkwochenendes und der angekündigten Absage der Nazi-Demonstration

SAMSTAG

11.40, vor dem Brandenburger Tor, Westseite: Fressbuden wie immer bei Festen am Tor. Es gibt Lebkuchenherzen, Süßigkeiten und – natürlich – die einen halben Meter lange Bratwurst im Brötchen.

11.50, Sowjetisches Ehrenmal an der Straße des 17. Juni: Auf einem Gedenkstein liegen rote und weiße Rosen und Nelken, daneben ein Blatt Papier. Darauf steht handgeschrieben: „Dank den Siegern, Trauer um die Opfer, Wut über das Scheitern der Weltrevolution.“ Zehn Meter entfernt fotografiert ein Vater seinen Sohn, der glücklich auf einer der russischen Kanonen sitzt.

12.00, Brandenburger Tor, am Ende der Stände: Klaus Wowereit hat die Hälfte seines Rundgangs geschafft, Hände geschüttelt, sich mit Passanten fotografieren lassen. Eine Stunde zuvor hatte er die Veranstaltung offiziell eröffnet und den 8. Mai als Tag der Befreiung Berlins, Deutschlands und Europas von der Nazi-Diktatur bezeichnet. Mit Blick auf die für Sonntag angesetzte NPD-Demo sagte der Regierende Bürgermeister: „Wir sind aufgerufen, diesem Treiben ein Ende zu setzen.“

12.10, Fest- und Informationsmeile: Etwas versteckt neben dem großen Stand der PDS quetscht sich der kleine Stand des katholischen Weltjugendtages in die Reihe. Rosenkränze und „Handyflasher“ mit christlichen Motiven werden hier verkauft. Eigentlich sollten sie neben der Kolping-Jugend stehen, sagt Magdalena Krupinska. „Da ist von den Organisatoren aber etwas verwechselt worden.“ Ein bisschen „verwirrt“ sei sie schon über die ungewohnte Nachbarschaft: „Aber ich kann damit leben.“

12.50, Bühne vor dem Brandenburger Tor: Gisela Jacobius, die als Jüdin zwischen 1943 und 1945 untergetaucht in Berlin gelebt hat, berichtet über ihre Sehnsucht nach dem Ende der Nazi-Herrschaft: „Wir haben so gehofft, endlich wieder mit erhobenen Kopf auf die Straße gehen zu können. Im Untergrund waren wir ja todgeweiht.“ Etwa 70 Menschen hören ihr zu.

13.05, am Brandenburger Tor: Der erste Regen.

13.40, Fest- und Informationsmeile: Die Polizei spricht von rund 2.000 Besuchern, die sich am Brandenburger Tor tummelten – bei hoher Fluktuation. Das addiert sich am Ende auf mehrere zehntausend Besucher.

14.30, Fest- und Informationsmeile: Ein bisschen säuerlich klingt Thomas Heppner, der Leiter des Anne-Frank-Zentrums Berlin, dass die Stände der vielen kleineren Initiativen gegen Rechts etwas abseits untergebracht wurden. Generell ist er jedoch zufrieden: Spannende Diskussionen habe es an ihrem Stand gegeben. Die meisten Besucher seien jedoch Touristen – und keine Berliner. Dennoch: „Wir wünschen uns, dass das Fest jedes Jahr stattfindet.“

18.57, Neptunbrunnen: „Das Wetter ist so scheiße wie Deutschland“, ruft eine Sprecherin von der Bühne des Antifa-Konzerts. „Aber wir rocken beides weg.“

21.15, Neptunbrunnen: „Schön dass ihr so zahlreich erschienen und nicht zum Brandenburger Tor gepilgert seid“, ruft Tocotronic-Sänger Dirk von Lotzow den tausenden auf dem Platz zu. Dann kündigt er die nächste Band an.

21.45, Spandauer Straße: Am Treffpunkt für die Lichterketten-Teilnehmer aus den Bezirken Pankow und Mitte hat sich außer zwei Polizisten noch niemand eingefunden. Es nieselt.

21.50, Spandauer Straße: Drei befreundete Familien aus Pankow sind die Ersten, die ihre Kerzen anzünden. „Wir würden zusammen ungefähr 20 Meter abdecken, haben wir uns ausgerechnet“, lacht eine Mutter. Fünf Minuten später umfasst die Gruppe rund vierzig Leute.

21.55, Neptunbrunnen: Tocotronic kündigen ihr letztes Lied an. Übertönt wird das schon vom Glockengeläut der Marienkirche, die Teilnehmer der Lichterkette herbeiklingeln soll.

22.00, Karl-Liebknecht-Straße: Während die Kirchenglocken läuten, schließt sich die Lichterkette aus Kerzen, Feuerzeugen, Laternen und Taschenlampen. Ein junges Pärchen besorgt sich bei „Nordsee“ Pappbecher, um ihre Kerzen vor dem aufkommenden Wind zu schützen.

22.30, Karl-Liebknecht-Straße/Ecke Alexanderplatz: An der Kreuzungsecke stehen sieben brennende Kerzen im Regen. Zwei Wannen mit gähnenden Polizisten fahren vorbei. Der erste Gedenktag ist geschafft.

SONNTAG:

9.27, Treptower Park: Ein Mann steht einsam mit einem Blumenkranz am Eingang zum Sowjetischen Ehrenmal. Es ist Egon Krenz.

9.45, Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße: Wasserwerfer fahren auf. Die seien gegen die Nazis gerichtet, falls sie zum Brandenburger Tor ziehen wollen, versichert ein Polizist. Die Wasserwerfer gegen die Linken stünden auf der Karl-Liebknecht-Straße.

10.05, Treptower Park: Gut 1.000 vor allem ältere Menschen erinnern am Ehrenmal an den Sieg der Roten Armee. Einige tragen DKP-, KPD- und DDR-Fahnen. Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) spricht in seiner Rede von der Sowjetunion, verbessert sich dann aber schnell: „ehemalige Sowjetunion“.

10.10, Alexanderplatz: Die Polizei ist etwas orientierungslos. Der Pressebeauftragte, so ein Beamter auf Nachfrage, sei am Neptunbrunen. „Wissen Sie, wo das ist? Wir jedenfalls nicht. Wir sind aus Köln.“ Das Gelände zwischen Bahnhof und Fernsehturm ist mit hohen Gittern und Wasserwerfern abgesperrt. Die Nazis werden in Polizeizelten kontrolliert. Auf dem Platz stehen ihnen sechs Dixi-Klos zur Verfügung.

10.15, Bertolt-Brecht-Platz: In Anspielung auf den Hitler-Film „Der Untergang“ ruft der 89-jährige Auschwitz-Überlebende Peter Gingold mit zittriger Stimme den versammelten Antifa-DemonstrantInnen zu: „Der Untergang war nicht 1945. Wir Deutsche haben die Machtergreifung nicht verhindert – 1933 war der Untergang.“

10.40, Treptower Park: Ein Mann zeigt die israelische Fahne. Die Menge brüllt: „Weg mit der Besatzerflagge.“

10.45, Bertolt-Brecht-Platz: Die Antifa-Demo zieht mit rund 5.000 Teilnehmern unter dem Motto „Tag der Befreiung, kein Naziaufmarsch am 8. Mai – Gegen Faschimus, Militarisierung und deutsche Opfermythen“ los.

10.50, Liebknechtbrücke: Die Fronten sind schon abgesteckt. Die Brücke ist gesperrt. Dahinter stehen sieben Wasserwerfer. Rund um den Alexanderplatz sind es mindestens 15.

10.55, vor dem Fernsehturm: Am Alex richt es derb nach Reinigungsmittel. Polizisten schmieren Seife auf die Balustrade am Fuß des Turms und klatschen hinterher Papierschilder drauf: „Vorsicht: Glatt!“

11.10, unterm Fernsehturm: „Wenn da, sagen wir mal, 5.000 Gegendemonstranten auf der Straße stehen, werden wir die Nazidemo nicht durchprügeln“, sagt ein Polizeisprecher.

11.15, Brandenburger Tor: Ein Drehorgelspieler findet den „Tag der Demokratie“ nicht so dolle: „Bescheiden“ sei das Geschäft, meint er, wegen der Großveranstaltung. Auch die Verkäuferin von „Gegen Nazis“-Buttons klagt über das Geschäft: Die meisten Antifas seien wohl in Mitte.

11.20, am Fernsehturm: „Vorsprung durch Wissen“, steht unten in Fraktur auf einem Nazi-Transparent. Die Polizei lädt die Presse auf den Balkon am Pavillon unterm Fernsehturm. Dort funkt ein Polizist durch: „Bis jetzt 3.600 bei der Gegendemonstration. 10.000 kriegen die zusammen.“

11.30, Treptower Park: Die Gedenkfeier für die Rote Armee ist vorbei. Die Menge fährt mit Bussen und Autos nach Mitte.

11.35, vor dem Fernsehturm, hinter den Absperrgittern: Eine Volksgenossin jenseits der 50 mit großer brauner 70er-Jahr-Brille sagt zu ihrem Begleiter: „Der Turm schwankt doch hin und her. Da brauchst du Berlin-Mitte gar nicht bombardieren. Es reicht, wenn der umkippt.“ Bis jetzt sind rund 500 Neonazis mit der S-Bahn angekommen.

11.40, Oranienburger Straße: Die Antifa-Demo macht eine Schweigeminute vor der Synagoge als „Verneigung vor den Opfern“.

11.45, Brandenburger Tor: Inge Deutschkron, die den Holocaust versteckt in Berlin überlebte, sitzt im Zelt der „Aktion Sühnezeichen“ und findet es „großartig“, dass so viele Menschen zur Festmeile auf der Straße des 17. Juni gekommen sind. Sie sei überzeugt gewesen, dass so früh „noch kein Mensch hier ist“, sagt sie, „ist doch prima“.

11.50, am Fernsehturm: Udo Voigt, NPD-Chef, wird erst von einem japanischen Magazin-Journalisten interviewt, dann von einem Reporter einer koreanischen Tageszeitung, der während des Gesprächs gleich auch noch fotografiert. Voigt schwafelt ihn zehn Minute lang voll.

12.04, auf der Balustrade vor dem Fernsehturm: Hans-Christian Ströbele – wie immer mit rotem Schal – lobt die Antifas und erklärt: „Man darf an diesem Tag, an dem der Krieg zu Ende ging, den Frieden in Berlin nicht zur Disposition stellen. Wenn die Polizei bei den Gegendemos den Marsch der NPD mit Gewalt durchsetzen würde, wäre dieser Frieden gestört.“

12.20, vor den Rathauspassagen: Die Schlange vor dem Essenstand der Nazis wird immer länger. Es gibt halbe Brötchen mit Fleisch und Blutwurst.

12.35, Münzstraße: Die Antifa-Demo läuft in den Rücken der Nazis. Eine Blockade an dieser Stelle erscheint sinnlos. „Heute ist doch gewollt, dass wir die Strecke blockieren“, sagt ein Antifa-Sprecher. „Wetten, dass die uns durchlassen?“

12.37, Münzstraße: Die Antifa-Demo steckt in der Sackgasse. Richtung Alexanderplatz steht die Polizei. Ein paar hundert Demonstranten stürmen in die Max-Beer-Straße. Die Polizei stoppt sie. Ein paar Flaschen fliegen. Die Antifa fordert die Demonstranten auf, umzukehren und Richtung Unter den Linden auf die Demoroute der Nazis durchzusickern.

12.59, am Alex: Die Polizei spricht von rund 2.200 Neonazis und rudert verbal zurück: „Durchprügeln werden wir das nicht“, sagt ein Polizeisprecher.

13.00, gesperrte Zone: Viele Neonazis im Alter zwischen 16 und 25 sind gekommen. Bomberjacken und Springerstiefel sind verboten: Deswegen tragen sie zivil, manche auch die Uniform der Autonomen. Schwarzes Kapuzenshirt, schwarze Basecap, schwarze Jeans. Erstaunlich viele haben Regenschirme mit. Marke: schwarzer Knirps.

13.07, Fußgängerbrücke im Monbijoupark: Hunderte junger Antifas strömen über die erste offene Brücke über die Spree. Die Polizei sperrt sofort ab.

13.12, Bebelplatz: Vor der Staatsoper ist alles abgesperrt. Hunderte stehen ratlos rum. Ein paar wenige schauen zu einer Videoleinwand: Dort wird der Gottesdienst übertragen.

13.24, Berliner Dom: „Braune Flaschen ins Altglas“, steht auf einem aufblasbaren Transparent des DGB. Fast tausend Menschen haben trotz all der Absperrungen den Weg hierher gefunden. Die Liebknecht-Brücke ist immer noch von der Polizei abgeriegelt.

13.45, Unter den Linden/Ecke Universitätsstraße: Rund 20 dunkle Limousinen und Reisebusse mit Teilnehmern der Kranzniederlegung an der Neuen Wache fahren vorbei. „Machen die Bundestagsabgeordneten den Nazis jetzt den Weg frei?“, ruft einer der Demonstranten. Einige Bundestagsabgeordnete kommen zu Fuß. Ein Journalist fragt Gernot Erler (SPD), warum er sich den NPD-Demonstranten nicht in den Weg stellt. „Dafür ist die Polizei da“, antwortet Erler und eilt weiter.

14.05, Leipziger/Ecke Markgrafenstraße: Rund 1.000 Leute, hauptsächlich Gewerkschaftler, versuchen Richtung Unter den Linden zu kommen.

14.15, Palast der Republik: Plötzlich steht das Tor zur Ruine auf. Hunderte strömen hinein, stehen auf der Brüstung, dem Dach oder schauen aus den Fenstern.

14.45, vor den Rathauspassagen: Eine Frau singt auf der Nazi-Bühne ein geschichtsverfälschendes Lied über ein Mädchen, das „der Bolschewist“ geschändet habe. Der Sprecher sagt: „Vielen Dank, Kamerad Annett“. Kameradin Annett geht ab.

15.00, Liebknechtbrücke: Ein Wasserwerfer fährt auf und wird von Demonstranten mit Beifall begrüßt. Der Fahrer winkt zurück. Allen ist klar, dass man Teil einer Inszenierung ist. Die Polizei tut wenigstens so, als ob sie versucht die Straße zu räumen.

15.15, vor den Rathauspassagen: Holger Apfel, NPD-Fraktionschef Sachsen, betritt die Bühne. Er sieht aus wie ein verfrorener Postbeamter. Seine Worthülsen handeln von Canossa-Republik, Stolz und Verblödung durch Volksverräter. Er ist schwer zu verstehen, weil sich seine Stimme ständig überschlägt.

15.50, Palast der Republik: Die Polizei schließt das Tor wieder. Ein paar Klamotten werden geworfen. Die Situation droht kurzzeitig zu eskalieren.

16.00, Liebknechtbrücke: Inzwischen stehen mehrere tausend Gegendemonstranten vor der Polizeiabsperrung. Die Menge reicht bis zur Staatsoper. Bunt gemischt, alt und jung, Antifas und Normalos. Wenn junge Antifas mit Sprüchen provozieren, singt eine Gruppe von Jusos die Internationale.

16.10, Liebknechtbrücke: Die Polizei sagt durch, dass der NPD-Abmarsch abgesagt sei. Die Menge bricht in Jubel aus und fordert: „Wir wollen zum Alex, und zwar umsonst.“

16.10, Rathausbrücke: Auch hier informiert die Polizei die Gegendemonstranten über die Absage der NPD-Demo. „Danke für ihre Mitarbeit und den friedlichen Protest“, ruft ein Polizist in die Menge.

16.18, vor den Rathauspassagen: Der NPD-Vorsitzende Udo Voigt ruft, Kanzler Schröder soll in Moskau den deutschen Soldatenfriedhof besuchen, sonst sei er ein „Kollaborateur“. Voigt verwendet das Wort „deutsch“ ungefähr zwölfmal pro Minute.

16.26, vor den Rathauspassagen: Die Nazimenge grölt: „frei, sozial und national“, und drängt gegen die Absperrgitter, hinter denen sich die Polizei positioniert hat. Der Sprecher auf der Bühne versucht die Menge zu beruhigen. Man verhandele mit der Polizei noch über eine Ersatzroute.

16.30, Liebknechtbrücke: „Ich bin total zufrieden mit der Polizei und der Politik des Innensenators“, sagt Klaus Lederer, innenpolitischer Sprecher der PDS.

16.51, vor den Rathauspassagen: „Wir lösen auf, aber tragt den Protest in die Stadt, tragt ihn nach Deutschland“, schreit ein NPD-Sprecher von der Bühne. Die Menge ist wütend. An allen Gittern stehen Polizeihundertschaften in Kampfmontur. Die Nazis trotten überraschend schnell zurück in den Bahnhof. Einige zünden noch eine Fahne an. Aber die wird von einem heftigen Regenschauer gelöscht.

17.02, vor dem Fernsehturm: Polizeipräsident Glietsch zieht eine erste Bilanz. Die Polizei habe entschieden, aufgrund der Vielzahl der friedlichen, aber auch militanter Gegendemonstranten, dass eine friedliche Durchführung des NPD-Aufmarsches nicht mehr gewährleistet sei. „Ein Durchprügeln wäre unverhältnismäßig gewesen.“

17.05, am Lustgarten: Die Demonstranten verstreuen sich. Die Sonne scheint, und über dem Alex geht – ungelogen – ein Regenbogen auf.

17.20, am Palast der Republik: Ein Demonstrant packt zwei große Penny-Markt-Tüten aus dem Rucksack und sammelt Pfandflaschen und -dosen ein.

18.05, Bahnhof Alexanderplatz: Der letzte Neonazi ist im Bahnhof verschwunden. Die Polizisten klatschen sich gegenseitig Beifall.

BIS, FLEE, GA, GES, LUC,
NWE, ROT, US, WERA