Entmystifiziert euch!

Erkundungen für die Präzisierung der Gefühle rund um einen Aufstand (9 und, puh!, Schluss):Über Voraussetzungen und Chancen einer konsequenten Historisierung der 68er-Bewegung

■ Muss, wer Rudi Dutschke sagt, auch Gewalt sagen? Um diese Frage ist eine Debatte entbrannt, die auch ein aktuelles politisches und gesellschaftliches Selbst-verständnis betrifft: Wie viel Abgrenzung von 68 muss, wie viel Anlehnung soll sein? Eine Essayreihe über den langen Marsch durch die Deutungen einer Revolte

VON CLAUS LEGGEWIE

„Historisierung“ hieß die Devise Martin Broszats im Bezug auf den Nationalsozialismus. Der damalige Direkter des Instituts für Zeitgeschichte kritisierte in diversen seit Beginn der 80er-Jahre publizierten Aufsätzen, der NS-Zeit sei eine falsche (wenn auch negative) Zentralstellung verliehen worden, von der aus sich vorangegangene und nachfolgende Phasen der deutschen Geschichte nur als vor- und nachfaschistisch darstellen ließen. Zugleich polemisierte er gegen die übermäßige Pädagogisierung der NS-Zeit, die sich jedem Bemühen um Verstehen widersetze und damit die Einsicht in die Gleichzeitigkeit von unsäglichen Verbrechen und banalem Alltag in der Diktatur erschwere. Dagegen setzte er den normalen, das heißt: professionellen Zugriff der Geschichtsschreibung auf das „Dritte Reich“, der einen nüchternen Vergleich mit anderen Diktaturen und staatlichen Gewaltverbrechen beinhaltet.

Was bedeutet es also, wenn Wolfgang Kraushaar und andere nun im Bezug auf „1968“ Historisierung fordern? Als Broszat seine Provokation verfasste, war das „Dritte Reich“ knapp vier Jahrzehnte vorüber – so lange wie 68 heute. Natürlich wird niemand bei klarem Verstand auch nur ansatzweise eine Gleichsetzung vornehmen, aber eins immerhin kann man also sagen: 1968 wird derzeit in dem Maße Geschichte, wie es damals für den Nationalsozialismus postuliert wurde – auch gegen volkspädagogische Bemühungen, gegen die Deklamationen der Zeitzeugen und SDS-Veteranen. Und die 68er-Generation steht heute genauso auf dem Prüfstand, wie sie selbst die damals Fünfzig- bis Sechzigjährigen unter die Lupe genommen hatte, indem sie anklagend fragte, welche Verstrickungen und Verdrängungen, kurz: „Leichen im Keller“ es da wohl geben mochte.

Zentral ist dabei die „Gewaltfrage“, die Anfang 2001 an „Fischer in Frankfurt“ (und ein wenig an seinen Parteifreund und Kabinettskollegen Jürgen Trittin), nun an den toten Rudi Dutschke und sein Verhältnis zur RAF gerichtet wird. Der deutsche Außenminister als überführter Steinewerfer (oder Schlimmeres) – dieses Image trübte weder Fischers Popularität im Inland noch seine Reputation als Chef der deutschen Diplomatie, dazu bedurfte es der Visa- und Nachruf-Affären 2005. Wenn man aber zeigen kann, dass terroristische Energie nicht etwa ein Spaltprodukt der antiautoritären Revolte nach 1968/69 war, sondern ihr Ingredienz und Movens von 1966 an, widerspräche dies Deutungen der Protestbewegung als einem Impuls, der für die politisch-kulturelle Entwicklung der Zweiten Republik unterm Strich positiv war.

Was hat es damit auf sich? Die Erkenntnisse, die Kraushaar aus dem Dutschke-Nachlass und anderen, längst publizierten Quellen (wie dem „Organisationsreferat“ von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl 1967) ausgebreitet hat, gebieten, den Mythos des ökopazifistischen, geradezu jesusartigen SDS-Führers endgültig zu verabschieden. Diese Idolisierung zum „sanften Radikalen“ war für Zeitgenossen, die Dutschke in den 1960er-Jahren, aber auch später aus der Nähe erlebt haben, ohnehin unglaubwürdig. Denn ebenso dezidiert, wie sich Dutschke von der RAF distanziert und frühere Positionen selbstkritisch revidiert hat, so dezidiert war er kein Pazifist und natürlich auch kein reiner Ökologe. Die grüne Partei war für ihn eine folgerichtige Fortentwicklung linkssozialistischer Parteigründungsinitiativen, die antikapitalistisch und antiimperialistisch ausgerichtet blieb.

Davon haben sich die Grünen entfernt, aus Gründen, die hier nicht zur Diskussion stehen. Erörtert werden sollte aber, wie konsequente Historisierung in diesem Zusammenhang aussehen und welche Erkenntnisse wissenschaftlicher wie politischer Art sie bringen kann. Historisierung bedeutet zum einen, dass die Sechziger- und Siebzigerjahre ein normaler, sozusagen turnusmäßiger Gegenstand der Geschichtsschreibung werden. Das verweist die Kombattanten des „Kulturkampfes“ und die auch in diesem Fall mitunter lästigen Zeitzeugen heilsam in die Schranken, zugunsten eines methodisch kontrollierten Zugangs. Im Verhältnis zu den (so oder so) bombastischen Selbstdeutungen der Zeitgenossen bewirkt das einen erfrischenden Positivismus, der sich erst einmal an Fakten zu halten versucht und für Deutungen, die im Fall der 68er rasch zur Hand sind, nüchtern nach Belegen fragt.

Zum anderen müssen Sichtweisen der Protestbewegung als radikaler Bruch genau wie Einordnungen in Prozesse längerer Dauer auf den Prüfstand gestellt werden. Über 68 muss, bitte, nicht länger in dem beleidigten Tonfall geredet werden, den etwa die Tochter Ulrike Meinhofs (aus nachvollziehbaren Gründen) anschlägt; und rote Großväter sollten nicht länger vom Barrikadenkampf schwadronieren, bei dem die meisten ohnehin nur nachträglich zugegen waren. Historisierung kann „Kampfgefährten“ anregen, wohl gehütete Geheimnisse zu verraten, und „Renegaten“ zum Nachdenken bringen, bevor sie sich zum x-ten Male an der Regierungs- oder Bewegungslinken abarbeiten.

Wie Martin Broszat zu Recht für den Nationalsozialismus reklamiert hat, geht es also erstens um ernsthafte Verstehensleistungen, die analog in der „Gewaltfrage“ plausibel machen muss, warum (nicht nur!) Dutschke für „Gewalt gegen Sachen“ in den Metropolen und in der Dritten Welt ohne weiteres auch für „Gewalt gegen Menschen“ war. „Die ‚Propaganda der Schüsse‘ (Che) in der ‚Dritten Welt‘ muss durch die ‚Propaganda der Tat‘ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen“ (O-Ton „Organisationsreferat“ 1967). Bevor man sich über diese Sätze echauffiert, müssen Nachgeborene sie im Kontext der weltgesellschaftlichen De- und Neokolonisierung sowie im Kontext der deutschen Verhältnisse um 1966/67 verstehen lernen und dabei auch die völlig unhistorische Trennung von kapitalistischer Gesellschaft und Gewalt aufgeben.

Die Entmystifizierung von 68 zielt auch in die andere Richtung, insofern der den Gewaltfantasien zugrunde liegende Tiersmondismus bei späten RAF-Bewunderern und Migranten aus den Vorstädten keineswegs ausgestorben ist und heute im Islamismus eine seltsame Renaissance feiert. Differenz und Zusammenhang zwischen maoistischer oder spontaneistischer Gewalt um 1968 und aktuellem Terrorismus sind nur ansatzweise verstanden.

Der zweite Ertrag der Historisierung bestünde darin, die in den letzten Jahrzehnten gelieferten Erklärungshypothesen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Eine prominente stammte 1988 vom kritischen Mentor der Studenten, Jürgen Habermas, der der APO rückblickend die „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik Deutschland zuschrieb. Andere Sozialwissenschaftler haben die nicht intendierte Kompatibilität der Revolte (unter anderem gegen den „kapitalistischen Konsumterror“) mit langfristigen Tendenzen der postindustriellen Konsumgesellschaft thematisiert, und ich selbst habe 1968 (im Vergleich zur verordneten Gründung der Bundesrepublik 1949 und zu ihrer verpassten Neugründung nach der Vereinigung 1989) als glücklich gescheiterte Umgründung der Bundesrepublik Deutschland charakterisiert.

Das vorgelegte Material, sosehr es Dutschke-Verächter oder -Verehrer zu erregen vermag, spricht nicht gegen solche Deutungen. Und der Stand der historischen Forschung, der jüngst umfassend im Archiv für Sozialgeschichte (Bd. XLIV, 2004, Dietz Verlag) zu den Siebzigerjahren ausgebreitet wurde, bestätigt sie durchweg. Phänomenen mittlerer und langer Dauer, die sich hinter dem Rücken der Akteure einstellen, soll nun aber offenbar mit einer unversöhnlichen Fokussierung auf die angebliche Gleichursprünglichkeit von Revolte und Terror die Grundlage entzogen werden. Auch soll die peinliche Inquisition offenbar die rot-grüne Götterdämmerung beschleunigen. Dazu bleibt allerdings richtig, was die „68erin“ Antje Vollmer der Oppositionsführerin Angela Merkel entgegenhielt, als sie von dem ohnehin geständigen Fischer „Buße“ forderte – dass man CDU-Vorsitzende und eventuell Bundeskanzlerin nicht trotz, sondern wegen 1968 wird.

Im Übrigen meine ich, dass die Nüchternheit der Historiografie nicht das letzte Wort sein kann, da sogar der Vorsitzende einer Partei die Kritik am globalen Turbokapitalismus, den sie selbst vorangetrieben hat, in eine grundlegende Kapitalismuskritik überführt hat. Sie ist notwendig, auch wenn die Revolutionshoffnungen von 68, die Utopien vom „anderen Leben“ und „neuen Menschen“ zerstoben sind.

Claus Leggewie ist Politologe in Gießen. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die Globalisierung und ihre Gegner“ (C. H. Beck Verlag)