Großes Staatstheater

NEUE MUSIK-THEATER Das „Kommando Himmelfahrt“ schließt in „Leviathan“ einen musikalisch-theatralen Gesellschaftsvertrag zwischen Bühne und Tribüne

Ein ebenso eigenständiges wie -williges großformatiges Bilder- und Musiktheater

VON ROBERT MATTHIES

Immer in höchstem Maße riskant, ein Himmelfahrtskommando eben, bleibt die abenteuerliche Reise, auf die sich der Hamburger Musiker und Komponist Jan Dvorak und der Berliner Regisseur Thomas Fiedler als „Kommando Himmelfahrt“ gemacht haben: Seit vier Jahren erkunden sie gemeinsam mit Musikern, Sängern, Chören, Schauspielern oder Fotografen und seit zwei Jahren verstärkt durch den Bühnen- und Kostümbildner José Luna die Grenzbereiche politischer und wissenschaftlicher Utopien. Indem sie die Grenzen zwischen zeitgenössischer Musik, Theater, Revue, Lecture-Performance und Installation immer wieder neu einreißen, um daraus ein ebenso eigenständiges wie -williges großformatiges Bilder-, Musik- und Klangtheater zu entwickeln: ganz konkrete Forschungsarbeit an positiven Utopien.

Dabei ging es zunächst noch ganz leise los: Anfang 2008 zündeten Dvorak und Fiedler im Haus 73 mit zwei Konzertflügeln eine kleine Konzeptkunst-Varieté-Rakete in der Hoffung auf „Rettung aus dem Weltall“. Im Herbst waren dann schon etliche mehr an Bord: In der „Future Music Picture Show“ „Hamburg Requiem“ hielten auf Kampnagel unter anderem die Schauspielerin Julia Hummer, Sänger Jan Plewka und ein Ensemble aus Harburger Kantorei, Kammerchor Altona, dem Posaunenchor der Kreuzkirche Ottensen, der Band Ten Ta To und dem Neue-Musik-Ensemble trio sonar eine lautstarke Totenmesse für ein untergegangenes Hamburg: in einer düster tösenden Mischung aus inszeniertem Konzert, Oratorium und Installation ließen sie die Stadt, die so gern Weltstadt wäre, untergehen und ganz unironisch als Welthauptstadt der ewigen Liebe wiederauferstehen. Und auch in der chorischen Performance „Über das Neue“ erkundeten im Jahr darauf nicht weniger als drei Sprecher, 18 Textgruppen, drei stumme Performancegruppen, zehn Geräuschgruppen, ein Blasensemble und ein Perkussionsensemble ausgehend von Darwins Evolutionstheorie, wie das Neue immer wieder in die Welt tritt.

Es folgten: das Musiktheater „Canti del Capricorno“ des geheimnisumwitterten italienischen Komponisten Giacinto Scelsi um nicht minder geheimnisumwitterte Kräfte zwischen Tönen und Menschen, eine „Himmelfahrt Radio Show“ am Berliner HAU1, eine „popmusikalische Übermalung“ von Erik Saties Kammeroper „Socrate“, eine opulente Pop-Oper-Version von Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“ in Kooperation mit dem Landestheater Eisenach und das B-Movie-Tanztheater „The Blob – Schrecken ohne Namen“ beim Neue-Musik-Festival „Klub Katarakt“ im letzten Jahr.

Folgerichtig also, dass sich die furchtlosen grenzgängerischen Zukunftsforscher in ihrem neuen Neue-Musik-Theater „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines Staates“, das heute auf Kampnagel Premiere feiert, gemeinsam mit der Künstlerin Anne-Cathrin Ulikowski der vielleicht wirkungsmächtigsten staatstheoretischen Schrift der Neuzeit zuwenden und dem Nexus Masse, Individuum und Macht nachgehen. Erschaffen wird der auf eigentümliche Weise aus unser aller Willen bestehende und doch über allen stehende Souverän dabei natürlich aus allerhand Menschenmaterial, das sich hier auf einen musikalisch-theatralen Gesellschaftsvertrag einigt: auf der Bühne erzählen die Schauspieler_innen Michael Gerlinger, Franziska Junge und Merten Schroedter, die Musik dazu gibt es von der Band Ten Ta To. Die größte Rolle spielen aber auch hier die Untertanen: Ein riesiger Chor – bestehend unter anderem aus dem Madrigalchor Eppendorf, dem Kammerchor Altona, dem Chor der HAW Hamburg und dem Chor der Volkshochschule Hamburg mischt sich unters Publikum: Auf dass Bühne und Tribüne gemeinsam das große mythische Theater Staat aufführen. Ob sich da noch jemand traut, sein von Hobbes zugestandenes Widerstandsrecht zu nutzen?

■ Sa, 18. 2. + So, 19. 2., je 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20