Jeder tanzt für sich allein

REGIEDEBÜT Intensiv: „Francine“ von Brian M. Cassidy (Forum)

Von Anfang an ist das ein Film intimer Nähe: Francine (Melissa Leo) betritt eine karge Gefängnisdusche, duscht, tritt heraus, nackt. Ein geschundener, nackter Frauenkörper, dem die Spuren des Lebens lesbar eingraviert sind. Sie selbst: teilnahms- und ausdruckslos. Dass sie heute aus der Haft entlassen wird, erfährt man erst kurz darauf im ersten Film von Brian M.Cassidy.

Francine versucht, wieder Fuß zu fassen. Nicht, weil sie es jetzt wissen, die zweite Chance nutzen will. Eher wohl, weil man das so machen sollte: Haus, Job, der Versuch eines sozialen Lebens. White-Trash-Milieu, aber mit Herz. Ein rustikaler Typ, trockener Alkoholiker und Born-again-Christ, bemüht sich bald um sie, sie fremdelt. Mit einer Frau aus der christlichen Gemeinde hat sie eine betrunkene Nacht lang Sex.

Hunde und Katzen leben bei Francine

Bindungen ergeben sich keine, sie bleibt den Menschen, uns, vielleicht auch sich die große Fremde. Unbeteiligt schaut sie zu, was geschieht, lässt sich treiben. Was in ihr vorgeht? Man erfährt es nicht. Wohl aber, dass sie große Tierliebhaberin sein muss: Ihre Wohnung verwahrlost, verwildert geradezu, bald leben Unmengen von Katzen und Hunden bei ihr. Ihren Job in einem Laden für Haustierbedarf verliert sie bald, dann arbeitet sie bei einem Tierarzt als Assistentin.

In einer Sequenz, der schönsten des ganzen Films, trifft sie auf eine Metalcore-Band, die auf einer typischen Vorort-Freifläche zwischen zwei Häusern ihr Equipment aufgebaut hat. Drumherum einzeln versprengte Teenager – kein Massenpogo, jeder tanzt, mosht, zuckt für sich allein. Francine stößt dazu, vorsichtig, abwartend, beginnt zur lauten, unbändigen Musik ungelenk zu wippen, die Hände in den Hosentaschen. Man könnte erwarten, dass sich hier endlich ein Knoten löst, eine eingesperrte Seele über das Ventil der Musik in befreiende Ekstase verfällt, vielleicht sogar für eine kurze Weile eins mit der Welt wird – doch nichts dergleichen. Die Musik lärmt, betäubt, isoliert – dann geht Francine, lässt die ohnehin stumpf anmutende Szenerie hinter sich: allenthalben aufgestaute Gewalt.

Letztes Jahr hat Melissa Leo einen Oscar für ihre Rolle als White-Trash-Mutter im Boxerdrama „The Fighter“ erhalten – was für ein mutiger Schritt von dieser Höhe aus „Francine“ ist! Leo spielt Francine gedrungen, ganz Körper, ungeschönt. Eine unzugängliche, nahezu unergründliche Frau, die, mit ihrer eigenen Freiheit konfrontiert, zum Leben darin nicht befähigt ist.

Schade an diesem intensiven Film bleibt nur, dass das ideale Schlussbild knapp verpasst wurde: Ein an sich unnötiges Anhängsel verleiht „Francine“ in wenigen Einstellungen ein rückwirkendes Narrativ, das es eigentlich nicht gebraucht hätte. Sei’s drum, Debütfilm. Brian M. Cassidy, den Namen des Regisseurs, sollte man sich merken.

THOMAS GROH

■ Heute, 20 Uhr, Cubix 9; 16.2., 19.30 CinemaxX 4; 17. 2., 19.30 CineStar 8