Noch viel Betrieb in dieser Spielhalle

Und alle Straßen leer: 30 Jahre nach seinem Unfalltod erscheinen der akustische Nachlass des Popdichters Rolf Dieter Brinkmann sowie sein Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ in einer erstmals vollständigen Ausgabe

Brinkmann wollte die Literatur nicht aus ihrer Verantwortung entlassen„Ich bin kein Dichter“, verkündet er einmal – und glaubt es wohl selbst nicht

VON FRANK SCHÄFER

Da ist es wieder, das aus seinen „späten“ Texten wohl bekannte Brinkmann-Paradox. Wenn man sich durch das erstmals vollständig publizierte „Unkontrollierte Nachwort“ zum erstmals vollständig publizierten Gedichtband „Westwärts 1 & 2“, ja, ackert, denn ein Spaß ist es nicht, stößt man immer wieder darauf: „Ein Schriftsteller, irgendeine einzelne Person in dieser Gesellschaft, dessen Mittel die gegebene Sprache ist, kann gar nicht anders, ist er heute sich selbst ernsthaft genug, als immer wieder darauf hinzuweisen, dass Sprache gar nicht so wichtig ist. Er sagt: Geh nach Hause, diese Spielhalle ist kaputt.“

Als sich Rolf Dieter Brinkmann nach immerhin zehn Büchern mit dem Versuch gescheitert glaubte, die Literatur im Sinne Leslie A Fiedlers „Postmoderne“-Konzept („Cross the Border, Close the Gap“) in Richtung Pop zu erweitern und nachhaltig zu beeinflussen, zog er sich 1969 enttäuscht aus dem Betrieb zurück, „um zu lernen“, „um das eigene Denken zu begreifen“. Er las die großen Kulturpessimisten John Cowper Powys, Hans Henny Jahnn, Gottfried Benn, William S. Burroughs, den späten Arno Schmidt, nicht zuletzt den Sprachkritiker Fritz Mauthner, schimpfte viel auf die verwesende Zivilisation, schrieb aber trotzdem weiter und profilierte vor allem sein poetologisches Programm. Brinkmann wollte das Unmögliche, eine unliterarische Literatur, Dichtung ohne Dichtung, eine vorsprachliche Sprache. „Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs“, heißt es in seiner berühmten „Vorbemerkung“ zu „Westwärts 1 & 2“. „Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.“

Die Literatur dürfe sich eben nicht mehr blind auf Worte verlassen, weil sich mit diesen Keksförmchen nur genormte Figuren aus dem großen Teig des Lebens ausstechen lassen. Sie müsse stattdessen versuchen, die alte, längst fixierte „tote“ Sprache zu überschreiten. Das sind alles gar nicht so originelle Postulate, sie gehören spätestens nach Hofmannsthals „Brief des Lord Chandos …“ zur eisernen Ration der literarischen Sprachskepsis. Aber während andere die Sprachdefizite immer wieder gern als Lizenz für eine Emigration in die reine Poesie nahmen, will Brinkmann die Literatur nicht aus der Verantwortung entlassen, die alltägliche Wirklichkeit einzufangen, die Einmaligkeit des Augenblicks, der versprachlicht schon wieder einer von vielen ist, trotzdem in Worte zu fassen. Und weil die Worte oft nicht reichen, erweitert er die Literatur, ergänzt sie mit Fotos. Anfang der Siebzigerjahre entstehen so die Text-Bild-Collagen seiner erst postum publizierten Materialienbände (am eindrucksvollsten und geschlossensten in „Rom, Blicke“).

Die auf fünf CDs präsentierte, über sechsstündige Auswahl des fast doppelt so langen Tonbandmaterials aus dem Nachlass zeigt nun, dass Brinkmann auch mit akustischen Komplementen experimentierte, um das fest gefügte, abstrakte Zeichensystem der Literatur mit mehr Leben, mehr Authentizität aufzuladen. Vom Westdeutschen Rundfunk, der zuvor bereits drei Hörspiele von ihm produziert hat, bekommt Brinkmann Ende 1973 ein Tonbandgerät gestellt, um Material für ein Selbstporträt zu liefern, das dann im Januar 1974 in der Sendereihe „Autorenalltag“ ausgestrahlt wird. Aber diese Materialsammlung geht über den Anlass weit hinaus. Er nimmt Alltagsgeräusche auf, geht auf die Straße, interviewt Bekannte, Freunde und Wildfremde, brüskiert sie absichtlich, telefoniert, fordert immer wieder seine Frau Maleen zum Sprechen auf, redet auch mit seinem behinderten Sohn Robert, macht das Medium selbst zum Thema, kratzt am Gehäuse des Mikros, schlägt damit um sich – und spricht schließlich hauptsächlich eigene Texte ein. Und das ist tatsächlich die Hauptsache. Denn trotz seines deutlichen Lispelns zeigt er sich als echter Performer. Er improvisiert, extemporiert vor laufendem Tonband, albert herum, baut kleine Versprecher zu lautpoetischen Preziosen aus, singt, zischt, brüllt, skandiert, flüstert, stöhnt, ächzt, zieht alle Register dessen, was man mit gesprochener Sprache so machen kann, collagiert Prosaschnipsel zu einem Text, verliest aber auch bereits schriftlich Fixiertes, Gedichte, autobiografische Notate, Essayistisches.

Und wenn man gerade wieder einmal an der oft genug quälenden, überambitionierten, verkrampften, absatzlosen Brinkmann-Prosa etwa auch des „Unkontrollierten Nachworts“ verzweifelt, kann man sich schon mal fragen, ob nicht vielleicht der akustische der gemäßere Aggregatzustand zumindest seiner Prosaarbeiten war. Denn hier bekommt die Suada plötzlich Struktur, setzen harte Schnitte Pointen, instrumentieren und dramatisieren Melodie- und Lautstärkeakzente den Fluss der Worte, und seine warme, ja, freundliche Stimme federt kalkulierte Kaltherzigkeiten ab.

Der ebenfalls termingerecht, separat publizierte Mitschnitt von seinen letzten beiden Lesungen auf dem Cambridge International Poetry Festival, „The Last One“, ist dagegen eher als Zeitdokument von Interesse. Immerhin lassen sich hier Brinkmanns letzte öffentliche Auftritte nachhören – nur zwei Tage später, am 23. April 1975, wird er in London von einem Auto überfahren. Sein schlechtes Englisch und die strenge, ritualisierte Form der Dichterlesung aber schränken sein Potenzial deutlich ein. Er liest mit Verve, leicht nervös, etwas zu schnell, hat das Publikum aber im Griff, doch was er wirklich in diesem Medium zu leisten imstande ist, zeigen eher die privaten Tonbandaufnahmen.

Man erfährt hier nicht viel Neues, einiges steht genauso oder doch nur leicht modifiziert in den Materialienbänden und in „Westwärts 1 & 2“ (für die mit textgenetischen Fragen befasste Germanistik indessen dürfte sich diese Publikation als mittelgroße Schatztruhe erweisen). Und auch die unbekannten Texte variieren in der Regel nur Brinkmanns einschlägige Themen, die in erster Linie seine Hasslatte ausschlagen lassen: Westdeutschland nach dem Krieg, die Kontrollgesellschaft, Rom als Großmetapher für das verrottete Abendland, sein bedrückender, von Geldsorgen beschwerter Alltag in Köln, die deutsche Literatur, die Sprache, seine eigene Poetik, Erinnerungen an die Kindheit in Norddeutschland usw. Aber die Transformation in ein anderes Medium – die Form eben! – macht den fundamentalen Unterschied. Vor allem den besinnungslosen Schimpflitaneien fehlt hier die sonst immer etwas spielverderberische Verkniffenheit und aufgesetzte Django-Attitüde. Gesprochen haben diese Texte plötzlich Charme und humoristische Qualitäten, nehmen sie gelegentlich sogar ungeahnte selbstironische Züge an. Das ist oft einfach ziemlich komisch. Etwa wenn er theatralisch schwer atmend, offenbar den zu Tode Erschöpften spielend, dumpfe Köln-Sottisen ins Mikro hechelt: „Köln … pervertiert … jeden Einzelnen … und dann in die Fresse … diese … Scheiß … menschen, die scheißen … die nur noch scheißen können … in Köln.“

„Ich bin kein Dichter“, sagt er einmal – und glaubt es selbst nicht. Denn die lyrischen Texte vor allem funktionieren auch gut ohne den akustischen Mehrwert. Und gerade die weniger gelungenen, um totale Wirklichkeitserfassung bemühten, die ganze unordentliche Bewusstseinsspreu aufs Blatt kippenden und so häufig kryptischen Gedichte aus „Westwärts 1 & 2“ demonstrieren ja deutlich genug, wie viel Kunstfertigkeit und Intuition eben doch nötig sind, um solche makellosen Abbilder des poetischen Augenblicks wie „Die Orangensaftmaschine“, „Einen jener klassischen“ oder „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“ schreiben zu können.

Als Brinkmann das Manuskript Ende 1974 dem Verlag gab, pochte sein Lektor Jürgen Manthey etwas kleinkariert auf die vertraglich festgelegte Seitenzahl, und so musste er außer dem überlangen Nachwort 26 Gedichte herausnehmen. Jetzt kann man endlich nachlesen, was einem da entgangen ist. Einige mehrspaltige, also zumindest formal von Arno Schmidts „Zettels Traum“ beeinflusste und ausfasernde, fast amorphe Texte waren in der Tat entbehrlich, aber hier sind auch echte Entdeckungen zu machen. Die wunderbar bluesige Reisereminiszenz „Chicago“ etwa, das Liebesgedicht und Kindheitsevokation vereinende „Don’t bug that chick“, die profanen Epiphanien „Aufwachen“, „Schattenmorellen“ und „Ein warmer südlicher Tag“ und nicht zuletzt der kleine simple Song „Ein anderes Lied“: „… Es / gibt eine große Anzahl Augenblicke, // die so gespenstisch sind, daß / man nicht einmal erschrickt, // z. B. alle Straßen sind leer / und die Ampeln funktionieren.“ Kein Zweifel, diese Spielhalle war für Brinkmann längst noch nicht kaputt.

Rolf Dieter Brinkmann: „Westwärts 1 & 2“. Gedichte. Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt, Reinbek 2005, 335 Seiten, 29,90 € „Wörter Sex Schnitt“. Originaltonaufnahmen 1973. Hg. von Herbert Kapfer, Katharina Agathos unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann. Intermedium records