Die vergessenen Zwangsarbeiter

ZEITGESCHICHTE In Berlin-Marzahn existierte ab 1936 neun Jahre lang ein Zwangslager für Sinti und Roma. Erst jetzt erinnert eine Dauerausstellung am historischen Ort an die Schicksale der Internierten

VON CIA RINNE

Eines der ersten nationalsozialistischen Zwangslager befand sich auf einem Gelände neben der heutigen S-Bahn-Station Raoul-Wallenberg-Straße in Berlin-Marzahn. Tausende von Sinti und Roma wurden ab 1936 im Marzahner Sammellager interniert und später von dort aus in die Vernichtungslager deportiert.

Jahrzehntelang erinnerte dort nichts an die Schrecken, die sich während der Nazizeit am Rande Berlins zutrugen. Noch zu DDR-Zeiten grenzten drei Kastanien und der Parkfriedhof das unbebaute Gelände ab, während die Marzahner Plattenblockzeilen lediglich jenseits der S-Bahn-Gleise hervorragten. Mittlerweile stehen auf dem Gelände Industriegebäude, ein Zirkus und ein Jugendzentrum. Erst seit einigen Jahren erinnern der Name des Platzes und der Name der Straße neben dem ehemaligen Lagergelände an die Geschichte. Sie sind nach Otto Rosenberg benannt, der als Kind im Marzahner Lager interniert war.

Petra Rosenberg ist seine Tochter und Vorsitzende des Landesverbands für Sinti und Roma Berlin-Brandenburg. Auf ihre Initiative geht zurück, dass kürzlich eine Dauerausstellung unter freiem Himmel auf dem ehemaligen Gelände des Lagers über dessen Geschichte eröffnet wurde. Zehn Ausstellungstafeln erzählen über die Kinder im Lager und die Zwangsarbeit. Vor allem bekommen die Menschen, die hier jahrelang eng zusammengepfercht und unter katastrophalen Bedingungen lebten, Gesichter: so der Berufsmusiker Luhgie von Klepacki, der Balletttänzer Peter Böhmer, die junge Frau Camba Franzen sowie der Bürgerrechtler Otto Rosenberg, der in seiner Autobiografie „Das Brennglas“ auch von der Zeit in Marzahn Zeugnis ablegt.

1936 war das Jahr der Olympischen Spiele in Berlin. Im Vorfeld wollten die Nationalsozialisten für eine „zigeunerfreie“ Reichshauptstadt sorgen. Eilig wurde in Marzahn am Rande Berlins, zwischen Bahngleisen, ein Zwangslager errichtet. Am Morgen des 16. Juli 1936 trieben Polizeieinheiten und SA auf Befehl des Berliner Polizeipräsidenten etwa 600 Sinti und Roma von ihren angemieteten Stellplätzen und aus ihren Wohnungen heraus, um sie nach Marzahn zu verschleppen – eine Aktion, die in einer Tempelhofer Zeitung zynisch als „Lustiger Zug“ verbucht wurde.

Die Sinti und Roma lebten in Baracken und Wohnwagen unter ständiger polizeilicher Bewachung des Lagers, das euphemistisch als „Rastplatz“ bezeichnet wurde. Den Eltern wurde die Möglichkeit genommen, ihre Berufe auszuüben, Kinder wurden vom regulären Schulbesuch ausgeschlossen. Stattdessen verpflichtete man alle über 13 Jahre zu Zwangsarbeit in umliegenden Betrieben, in der Landwirtschaft und ab 1941 auch in der Rüstungsindustrie. Viele Sinti und Roma wurden „rassenhygienischen“ Untersuchungen unterzogen, und nach dem „Asozialenerlass“ von 1937 war jeder Sinto oder Rom ständig in Gefahr, in ein Konzentrationslager verschleppt zu werden.

Mit Kriegsbeginn verschlechterten sich die Lebensbedingungen im Marzahner Lager erheblich. Besonders die Kinder starben an Unterernährung und der unzureichenden medizinischen Versorgung. Ihre namenlosen Gräber befinden sich auf dem Parkfriedhof neben dem Zwangslager Marzahn.

Noch 1942 wurden viele Sinti und Roma aus dem Lager Marzahn von Leni Riefenstahl zu den Dreharbeiten zum Film „Tiefland“ verpflichtet. Als die Sozialausgleichabgaben für die Statisten abgerechnet wurden, waren die meisten schon nach Auschwitz deportiert worden.

In der Nachkriegszeit geriet das Zwangslager Marzahn in Vergessenheit. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die verfolgten Sinti und Roma jahrzehntelang weder in Ost noch in West als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Von Entschädigungen waren sie ausgeschlossen. Die Inhaftierten seien im Lager nicht gefangen gewesen, urteilte das Entschädigungsamt in Westberlin, die Insassen hätten schließlich Arbeitsstellen aufsuchen „dürfen“. Die Täter, wie der Leiter der Dienststelle für Zigeunerfragen, Leo Karsten, wurden nie strafrechtlich verurteilt, in einigen Fällen tauchte er gar als Gutachter der Anträge auf Wiedergutmachung wieder auf.

Dass dennoch in kleinen Schritten eine Erinnerungskultur für die Sinti und Roma des Lagers Marzahn begann, ist einigen wenigen zu verdanken. 1986 wurde auf Initiative des Pfarrers Bruno Schottstädt und des Schriftstellers Reimar Gilsenbach auf dem nahe gelegenen Parkfriedhof Marzahn ein Gedenkstein errichtet.

Die Erinnerung an die Opfer des Zwangslagers Marzahn kommt spät, wie vieles in der Aufarbeitung der Geschichte der Verbrechen an den Sinti und Roma. Symptomatisch dafür ist die chronische Baustelle des nationalen Denkmals für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma im Tiergarten. Ein Dreivierteljahrhundert nach seiner Errichtung ist nun der Ort des NS-Zwangslagers endlich deutlich als solcher gekennzeichnet worden. Bezeichnend ist auch, dass die Realisierung der Ausstellung in Marzahn dem Kind eines Überlebenden zu verdanken ist.

■ Die Ausstellungstafeln auf einem Gelände am Otto-Rosenberg-Platz sind jederzeit zugänglich