Vom Erwachen

IM KINO Hélène Cattets und Bruno Forzanis „Amer“ erhebt das Ephemere zum weltfüllenden Ereignis

Ein Film, der seine Geschichte, seine Figuren in extreme Close-ups fragmentiert – und das visuell wie akustisch: Das ist das morbide Kinogedicht „Amer“. Selten hat ein Film so genau hingehört: knirschendes Leder, eine früh-sommerliche Brise, die über Haut streicht, das bisschen Spucke, das schmatzt, wenn eine Haarsträhne jugendlich verträumt in den Mundwinkel genommen wird, das Spiel mit den Zähnen eines Kamms.

„Amer“ erhebt das akustisch Ephemere des Alltags zum weltfüllenden Ereignis, zum ästhetischen Hochkonzentrat einer ungefilterten Wahrnehmung, von Dialogen indessen kaum gestört: Alles an „Amer“ ist übersensuell für die Textur der Dinge und ihrer Geräusche – Fetisch Kino/Kinofetisch. Hélène Cattet und Bruno Forzani, die beiden Regisseure, komponieren eine dunkle Welt aus kleinsten Ereignispartikeln und tauchen sie tief ein in satte Primärfarben.

Die Farben sind dem italienischen Genrekino entliehen, dem Giallo, dem italienischen Slasherfilm, als dessen postmoderne Reprise „Amer“ vermarktet wird. Gültigkeit besitzt dies lediglich für die musikalische Untermalung, die direkt aus verstaubten italienischen Archiven stammt. Ästhetisch und inhaltlich ist der Giallo aber lediglich Stichwortgeber und Motivfundus: Die spektakulär in Szene gesetzten Mordsequenzen des Giallo werden von „Amer“ aus der mitunter drögen Kriminalfilm-Rahmenhandlung als Attraktionsinseln freigelegt und als Gestaltungsprinzip für das eigene Ansinnen fruchtbar gemacht: Mit seinem unbedingten, auf die Spitze getriebenen Stilwillen eröffnet „Amer“ somit Bündnismöglichkeiten des alten Bahnhofskinos mit dem Experimental- und Avantgardefilm. Die Ameise, die munter aus einem Mädchennabel krabbelt, ist nicht nur dem sensualistischen Projekt des Films geschuldet, sondern auch ein direkter Gruß an Buñuels und Dalís „Andalusischen Hund“, die oft mechanistisch anmutende, zwischen Auge und Erblicktem rasch changierende Montage erinnert an die Filme des tschechischen Surrealisten Jan Švankmajer.

Doch style over substance, entleerter Manierismus ist „Amer“ nun gerade nicht: Vielmehr ist die fetischisierende und fetischisierte Form direkter Binnenausdruck dreier sinnlicher Erwachungsstufen einer Frau namens Ana, denen auch die drei Episoden des Films entsprechen: Ein kindliches Trauma aus der Verbindung von Tod und Sexualität, das Erwachen körperlicher Triebe als junge Frau in einer vom männlich begehrenden Blick strukturierten und damit als antagonistisch wahrgenommenen Welt, schließlich die Rückkehr als erwachsene Frau in das Anwesen ihrer Eltern, um das ein mit Lederhandschuhen und Rasiermesser typisch bewehrter Giallomörder schleicht – drei Stufen einer Eskalation sinnlichen und körperlichen Erlebens und Entdeckens, die sich ästhetisch gerade nicht auf die phallische Konzentration reduzieren, sondern Nervenenden am ganzen Körper in den Blick nehmen. Ein Film, der selbst noch beim drastischen Mord gegen Ende des Films buchstäblich Fingerspitzengefühl wahrt. Hochkonzentriert, mit stets wachem Blick für Mittel und Form gehen die beiden Regisseure ohnehin an jeder Stelle zu Werk.

Die Affektwirkung dieses kleinen, großartigen Films ist enorm. Dies zumal im Kino, lebt dieser Film doch gerade von der Macht, die eine große Leinwand über seine Zuschauer hat und auf dem heimischen Fernseher schnell verloren geht.

Lange Zeit schien es, als sei „Amer“ aufgrund seiner ästhetischen wie inhaltlichen Sperrigkeit eine schnöde DVD-Premiere vergönnt. Umso schöner, dass sich dennoch ein mutiger Verleiher fand, der diesen Kino-Film in seiner ureigenen Umgebung wirken lässt. THOMAS GROH

■ „Amer“. Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani. Mit Marie Bos, Delphine Brual, Harry Cleven. Frankreich/Belgien 2009, 90 Min.