Pünktchen und der Krieg

1945 jenseits der Hauptkriegsschauplätze (letzter Teil)

AUS TEL AVIV SUSANNE KNAUL

Sie gilt als die Grand Dame des israelischen Theaters, und ein bisschen verhält sie sich auch so. „Süße“, sagt sie auf die Bitte der Fotografin, sich auf einen anderen Stuhl zu setzen, „ich bin in meinem Leben schon so oft fotografiert worden, du wirst auch so zurechtkommen.“ Sie hat es nicht mehr nötig, sich um Publicity zu bemühen.

Hanna Marron ist 81 Jahre alt. Das Gehen fällt der Schauspielerin schwer. Trotz ihrer Prothese, die sie dort trägt, wo früher der linke Fuß war, und die sie unter rosaroten Ringelsöckchen verborgen hält, weigert sie sich, einen Stock zu Hilfe zu nehmen. Da bleibt sie doch lieber gleich sitzen vor dem großen Tisch, auf dem Alben liegen mit Bildern und Mitschnitte früherer Auftritte. Hinter ihr steht das Telefon, das in regelmäßigen Abständen klingelt. Sie fasst sich kurz, vor allem weil sie nicht mehr so gut hört, was sie erkennbar ungeduldig werden lässt. Ein Hörgerät käme für sie allerdings noch weniger in Frage als der Gehstock. Sie ist behutsam geschminkt, professionell frisiert und trägt teuren Schmuck. Sie will ein Star sein. Sie war es schon als Kind, die Emigration hat daran nichts geändert, der Krieg nicht und auch der Terror nicht.

Die einzige Tochter eines Berliner Elektrikers trat bereits 1928 als Vierjährige auf, mal im Deutschen Theater, mal in der Volksbühne, galt als Wunderkind. Hannele Meierzak hieß sie damals. Von der ehrgeizigen Mutter auf die Bühne geschoben, war sie das Pünktchen, aus Erich Kästners „Pünktchen und Anton“, so betont sie stolz und legt eine gewichtige Pause ein: „Nicht das aus dem Film, sondern auf der Bühne.“

Falsche Nasenrotze

Sie erzählt vom Theaterleben, vom Regisseur Gottfried Reinhardt, Sohn des legendären Max, und vom Schauspieler Emil Jannings: „Er hasste Kinder, vor allem die, die auf der Bühne standen.“ Als „Riesen“ empfand ihn die kleine Hannele, als er ihr grob Vaseline ins Gesicht schmierte, damit es aussieht, als triefe ihr Rotz aus der Nase. Die Tochter von Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“ sollte dadurch echter wirken. Sie spricht mit bebender Stimme, als sie Emil Jannings nachahmt, als grause es ihr heute noch.

Sie erzählt ohne Vorbehalte, mal ungeduldig aufbrausend, dann wieder versöhnend, großzügig, umgarnend: „Warum lachen Sie denn gar nicht?“

1933 war es schon wieder aus mit dem Theater. Vater Meierzak entschied, nach Palästina zu gehen. Nicht weil er Zionist war und auch nicht in weiser Voraussicht dessen, was Deutschland für die Juden Europas parat hielt, sondern weil er arbeitslos war. In Palästina wurden Handwerker gebraucht.

Hanna war glücklich. Dass sie zunächst nicht Theater spielen konnte, war für das Mädchen fast ein Segen. „Nicht, dass ich darunter gelitten hatte, ich mochte die Bühne, aber ich war einsam, hatte keine Freunde.“ Hanna holte in Tel Aviv nach, was Hannele in Berlin versäumt hatte.

Als sie sich später beim etablierten Habima-Theater bewirbt, wird sie weggeschickt. „Ich war zwar eine tolle Biene, aber das reichte nicht“, sagt sie mit einer gewissen Härte gegen sich selbst und mit offenbar bis heute nicht überwundener Empörung darüber, dass man in Tel Aviv von dem Berliner Kinderstar nichts gehört hatte. „Habima – das ist dort drüben“, erklärt sie mit einer vagen Handbewegung. Vom Fenster ihrer Dachgeschosswohnung kann man direkt auf das Theater sehen.

Kaum zwei Jahre spielte sie im „Studio“, bis die britische Armee Anfang der 40er-Jahre zur freiwilligen Rekrutierung für den „Kampf gegen Deutschland“ aufrief. Die jungen Schauspieler setzten sich zusammen und berieten. „Wir wogen ab zwischen unserer Karriere und dem, was zu tun war, um Mensch zu bleiben. Wir entschieden uns einstimmig für den freiwilligen Kriegsdienst.“ Sie eilte zur Rekrutierungsstelle des britischen Frauenkorps, ließ sich eine Uniform geben und eilte wieder zurück, um ihre Kollegen zu treffen, die es sich inzwischen alle anders überlegt hatten. Nur Jossi Jadin wurde auch Soldat und einige Jahre später Hannas Mann.

Jossi war es, der ihre Gedanken beschäftigte, als am 8. Mai 1945 die Nachricht vom Kriegsende kam. Sie war in Kairo. Die eben geschlossene Ehe stand schon wieder kurz vor ihrem Ende. Die historischen Ereignisse bekam sie da fast nicht mit, auch von den Freudenfeiern hat sie kein Bild mehr. „Ich war so sehr mit meinem Privatleben beschäftigt, ich kann mich nicht daran erinnern.“

Vier Jahre lang hatte Marron „im Kampf gegen Deutschland“ gedient, zunächst in einer Schreibstube in Ägypten, später in der Unterhaltungstruppe für die jüdischen Freiwilligen. Gespielt wurde auf Hebräisch und überall dort, wo sich die deutsche Armee zurückgezogen hatte, in Italien, auf dem Balkan.

Nur einmal, gegen Kriegsende, saßen keine Soldaten im Zuschauerraum, sondern jüdische Flüchtlinge. Für Marron war es das erste Mal, dass sie mit dem Holocaust konfrontiert wurde. „Ich wusste nichts davon, bis wir nach Rom kamen“, sagt sie. Erst als sich der Vorhang nach der Vorstellung öffnete, konnten die Schauspieler den inzwischen beleuchteten Zuschauerraum sehen. „Wir waren schockiert. Dort saßen vielleicht 50 Leute, die überlebenden jüdischen Flüchtlinge. Sie standen dort, klatschten und weinten. Sie hatten kein Wort verstanden, aber sie sahen jüdische Soldaten aus dem Heiligen Land und waren gerührt.“

Aus dem Krieg zurück in „Erez Israel“, dem Land Israel – das Wort Palästina sei damals nicht in ihrem Bewusstsein gewesen – schließt sie sich mit einer Gruppe Kollegen zusammen und gründet das freie Theater Kameri, das sich neben dem Habima-Theater inzwischen einen respektablen Platz in der israelischen Kulturszene erobert hat.

Sie schwärmt von der Zeit, die sie mit den Großen der israelischen Literatur und Kunst aber auch der Politik und Armee im Kaffee Kassid verbrachte. Der Lyriker Nathan Altermann, der spätere Außenminister Igal Alon und Verteidigungsminister Mosche Dayan gehörten zu ihrem Freundeskreis. Es war eine Zeit der One-Night-Stands und der politischen Gespräche, die die junge Schauspielerin mitanhörte, die ihr aber, wie sie zugibt, „nicht wirklich ins Bewusstsein drangen“. Und es war eine Zeit der Unruhen und Aufstände gegen die ins Land strömenden jüdischen Flüchtlinge. Irgendwann habe sie gemerkt, dass es „da noch jemanden gibt“, noch ein Volk mit Ansprüchen auf das Land.

Erst 1970 bekam sie den Konflikt schließlich so überraschend wie gnadenlos zu spüren. Zusammen mit ihrem Kollegen Assi Dayan, Sohn des Verteidigungsministers Mosche Dayan, war Marron auf dem Weg zu einem Vorsprechen für die Verfilmung von „Anatevka“. Gedreht wurde in London, sie hatten einen Zwischenstopp in München.

Von jenem Tag erzählt sie nur widerwillig, fragt: „Muss das sein?“ Sie erinnert sich an Schritte auf dem Marmorfußboden und einen dunkelhäutigen Mann mit blauen Augen, der irgendwas in der Hand hielt. Sie hat nicht verstanden, was der Mann meinte, als er rief: „Dies ist ein Anschlag, wir werden Sie töten.“ Irgendetwas traf sie, „ich kroch zu einer Treppe und hielt mich an einem Heizkörper fest. Dort bekam ich den Schlag.“ Dann wurde sie ohnmächtig.

Kästner am Krankenbett

Hanna lag in einer Dampfwolke, die aus dem kaputten Heizkörper drang, und erst als alle anderen Verletzten schon geborgen waren, wachte sie auf, als sie einen am Flughafen beschäftigten Kellner rufen hörte: „Um Gottes Willen, da liegt noch eine Frau!“ Im selben Rettungswagen, der sie zum Krankenhaus brachte, lag der verletzte Attentäter.

Durch den Anschlag wurde die Bedrohung plötzlich konkret. Die „große Patriotin“, wie sich Marron selbst nennt, begann „erst sehr spät“ zu merken, dass schon aus Eigeninteresse das andere Volk respektiert werden müsse. Sie sagt allerdings auch: „Mit allem Respekt für die Palästinenser, mein Volk ist mir wichtiger.“

Vier Monate dauerte der erste Behandlungszyklus im Klinikum rechts der Isar. „Millionen Briefe“ erreichten sie aus Israel, Kästner besuchte sie im Krankenhaus. Die für die laufende Saison geplante „Medea“-Aufführung mit Marron als Hauptdarstellerin musste verschoben werden. Sie spielte die anstrengende Rolle trotz ihres abgerissenen Fußes ein Jahr später mit großem Erfolg.

Nur für zehn Tage kam sie noch einmal nach München, um sich dort eine Prothese anpassen zu lassen und wurde wieder Zeugin brutaler politischer Gewalt. Nur wenige Kilometer von den Behandlungsräumen entfernt verschafften sich arabische Terroristen Zugang zum olympischen Dorf, entführten und töteten schließlich elf israelische Sportler.

Zu Hause in ihrer hellen Atelierwohnung sitzt sie umgeben von Bildern bekannter israelischer Maler, Skulpturen und Fotos von ihrem inzwischen verstorbenen zweiten Mann, einem Architekten, und ihren Kindern, von denen zwei zu den Topstars des israelischen Showbusiness gehören. Sie bereitet den nächsten Auftritt vor: vertonte Gedichte Rainer Maria Rilkes. Zum Glück liest sie auf Hebräisch, was sie bevorzugt. Obwohl ihr eigentlich das Deutsche leicht über die Lippen geht. Als hätte sie Berlin erst gestern verlassen.