Wo jedes Ding ein Echo hat

LYRIK Heimat ist ein poetischer Augenblick aus Wahrnehmungen und Erinnerungen. Gedichte von Norbert Scheuer: „Bis ich dies alles liebte“

Max Goldt verdanken wir die schöne – und absolut zutreffende – Erkenntnis, dass man sich am schnellsten ins gesellschaftliche Abseits befördern kann, wenn man behauptet, gekaufte Marmelade schmecke genauso gut wie selbst gemachte.

Ähnlich heikle Folgen kann es haben, wenn man Literatur und Heimat kurzschließt. Einen Schriftsteller als „Heimatdichter“ zu bezeichnen dürfte trotz des Booms von Landlust, Landidee & Co. noch immer einer der sichersten Methoden sein, ihn im literaturbetrieblichen Nichts zu versenken. Gegen die Vielzahl negativer Assoziationen, die der Begriff sogleich weckt, hätte der Kategorisierungsversuch vermutlich kaum eine Chance. Heimat, das klingt noch immer verdächtig nach Nischendasein und begrenztem Horizont, nach Lobpreis des Herkommens und harmonisierender Weltsicht, nach literarischem Hinterwäldlertum und vormoderner Schriftstellerexistenz. Gebilligt wird allenfalls eine „Antiheimatliteratur“, die das vermeintliche Idyll nach allen Regeln der Kunst zerstört.

Einer gewissen Ängstlichkeit mag es auch zuzuschreiben sein, dass Norbert Scheuers Gedichtband den durchaus überraschenden Gattungshinweis mit einem „neu“ zu entschärfen versucht. Natürlich handelt es sich insofern um „neue Heimatgedichte“, als die heimatliche Eifel hier – nicht anders als in den bisher vier Prosabänden Scheuers, von denen es „Überm Rauschen“ 2009 sogar auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte – nicht einfach naiv als geliebte Herkunftsregion geschildert wird, sondern als durchaus abgründiger Mikrokosmos, in dem sich auf überschaubarem Raum das menschliche Dasein in all seinen Facetten widerspiegelt. „Etwas fehlt immer“ heißt denn auch bezeichnenderweise das Gedicht, aus dem der titelgebende Vers des Bandes stammt: „wenn ich zu den Sternen sah / wusste ich nie / ob ich fortgehen oder bleiben sollte / es dauerte / bis ich dies alles liebte.“

Heimatliebe ist harte Arbeit. Die Naturidylle ist durchsetzt von Schrecken und Grausamkeit, wenn im Fluss die jungen Kätzchen ertränkt werden, wenn die Kühe „wie von indischen Tänzerinnen / die Markierung / der Bolzen auf der Stirn“ tragen oder wenn das Ich die gefangenen Fische erst noch zart „unter den Bäuchen krault“, bevor es sie ans Ufer wirft, „wo sie erstickten“. Wo die Fülle der Eindrücke fehlt, geht der Blick des lyrischen Ichs gen Himmel, es träumt sich mit geschlossenen Augen ans Meer oder will „mit einem Senkblei die Tiefe ausloten“. Immerhin wanken daneben auch noch jede Menge Betrunkene durch die Gedichte, es wird viel gestorben, und Natur, Dorf und Geschichte vereinen sich zu „ungeordneten Landschaften“, die weit über die konkrete Realität des Heimatortes hinausweisen.

Scheuer, der 1951 in Prüm in der Eifel geboren wurde, heute in Kall, Eifel lebt und hauptberuflich als Systemprogrammierer bei der Telekom arbeitet, hat als Lyriker begonnen und im vorliegenden Band seine frühen Gedichte um noch einmal so viele neue Texte erweitert. Entstanden ist dabei ein lyrischer Kosmos, der nicht ohne Grund an das „Paterson“ des Amerikaners William Carlos Williams erinnert. Dessen poetologischer Leitsatz – „No ideas but in things“ – könnte auch für Scheuers Poeme gelten: Nur durch die konkrete Anschauung der Dinge stoßen wir zu den zentralen Ideen und Vorstellungen vor, die das menschliche Dasein bestimmen. Entsprechend folgen die freirhythmischen Verse dem wahrnehmenden Bewusstsein des Ichs, mal fließend, mal stockend, und vereinen sich „zu einem unendlich verwobenen Gespinst von Dingen und Worten“, zu einem „Echo von allem“, denn genau hier, im Übergang vom Ding zum Wort, eröffnet sich für den kurzen Moment des Gedichts ein Blick auf alles, „was je gewesen in diesem Augenblick“. Dieser poetische Augenblick aus Wahrnehmungen, Träumen und Erinnerungen, der nah und fern, damals und heute, Welt und ich zusammenzieht, ist die Heimat, die Scheuer meint, ein luftiges, vielschichtiges und stets nur temporäres Konstrukt, das mit dem klassischen Heimatbegriff in der Tat nichts mehr zu tun hat.

In diesem Sinne gehört Norbert Scheuer, als Prosaist wie als Lyriker, zusammen mit Arnold Stadler und Andreas Maier zu den eindrucksvollsten „Heimatdichtern“, die die deutsche Gegenwartsliteratur zu bieten hat, und Autoren wie ihnen wird es irgendwann hoffentlich zu verdanken sein, dass man diesen Begriff ohne schlechtes Gewissen von seinen Anführungszeichen befreien kann.

ANDREAS WIRTHENSOHN

Norbert Scheuer: „Bis ich dies alles liebte“. Neue Heimatgedichte. C. H. Beck, München 2011, 101 Seiten, 14,95 Euro