„Ich war nicht frei von Tränen“

Für seinen neuen Film „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ hat der Regisseur Malte Ludin seine Geschwister zur Rolle des Vaters in der Nazi-Zeit befragt. Ein Gespräch über geschönte Erinnerungen und Vergangenheitsbewältigung in der Familie

INTERVIEW MATTHIAS REICHELT

taz: Herr Ludin, wie ist Ihre Beziehung zu Ihrem Vater?

Malte Ludin: Ich weiß weder, wie er sich bewegt hat, noch kannte ich seine Stimme. Zum ersten Mal habe ich seine Stimme auf einer Tonkassette des Deutschen Radioarchivs in Frankfurt gehört und habe gedacht, das kann doch nicht sein, das ist ein völlig fremder Mann. Es handelte sich um eine der SA-Reden unseres Vaters. Ich bin nach dem Krieg aufgewachsen in Schwaben und dort gab es viele Leute, die meinen Vater noch kannten und noch mit Nazi-Deutschland sympathisiert und ihn in gewisserweise verehrt haben. Ich bin bis weit in die Sechzigerjahre hinein mit dem Vaterbild des großartigen Menschen und edlen Nazi aufgewachsen. Meine Mutter hat natürlich mit der Macht ihrer Person – und die war recht gewaltig – dafür gesorgt, dass dieses Bild erhalten blieb. Das wirkte auf mich, bis ich aus dem Familienkreis rauskam, in den ich auch nie so stark integriert war.

Haben Sie damals schon versucht, Ihre Familie mit Ihrem neuen Bild vom Vater zu konfrontieren?

Ich kann mich erinnern, dass es damals schon viel Streit gab. Möglicherweise war ich für diesen Streit mit verantwortlich. Natürlich wurde über die Nazi-Vergangenheit geredet, aber unser Vater musste da immer ausgespart bleiben. Wenn ich also bei Anlässen wie Weihnachten oder dem Geburtstag meiner Mutter in der Familie war und über meine neuen Ansichten vom Faschismus redete, dann blieb nicht aus, dass man darüber diskutiert hat. Dabei blieb oft eine Verbitterung zurück, die wohl damit zusammenhing, dass bestimmte Punkte nicht mehr diskutiert werden durften. Und ich habe mich daran mehr oder weniger gehalten.

Im Film wird angedeutet, dass Ihre älteste Schwester Eri, die 1998 verstorben ist, große Probleme mit der Rolle Ihres Vaters in der NS-Zeit hatte und daran zerbrochen ist?

Ja, so sieht das, wie ich finde mit gutem Grund, ihre Tochter Alexandra. Eri hatte eine sehr enge Beziehung zu meinem Vater und wurde als Älteste bevorzugt. Mit vierzehn wurde sie damit konfrontiert, dass er als Verbrecher hingerichtet worden ist. Das hat bestimmt einen Riss in ihrer Biografie verursacht, der niemandem in der Familie – ihr selbst möglicherweise auch nicht – bewusst war.

Können Sie sich an Auseinandersetzungen mit Eri über Ihren Vater erinnern?

Ja, es gab eine ganz hässliche Auseinandersetzung mit ihr. Ich war gerade aus Berlin gekommen, und als das Gespräch auf den Vater kam und ich ihn „Nazischwein“ nannte, brach sie in Tränen aus, war aber gar nicht in der Lage, mir etwas zu erwidern. In einem anderen Konflikt hätte sie mich im hohem Bogen rausgeschmissen. In diesem Fall aber war sie völlig geknickt, weinte nur und ich merkte, ich habe da etwas angerichtet, das vielleicht nicht mehr gutzumachen war. Meine Schwester hatte durch ihre Ehe mit Heinrich Senfft, der in Berkeley studierte, Kontakt zu vielen jüdischen Studenten. Sie hatten eine andere Perspektive auf die Nazis und die Nachkriegszeit. Das führte natürlich zu Konflikten in beider Beziehung. Meine Schwester glaubte wahrscheinlich, ihren Vater verteidigen zu müssen, obwohl sie wusste, sie kann ihn eigentlich gar nicht verteidigen. Sie war sehr nah an ihm dran und deshalb hat sie das auch am härtesten getroffen und zwar doppelt.

Im Film gibt es mehrere Szenen, in denen die Menschen mit den Tränen kämpfen. Die Kamera bleibt konsequent auf der Person. War Ihnen klar, dass sich solche Szenen abspielen werden?

So hatte ich nicht damit gerechnet, auch wenn mir klar war, dass dieser Film in die Gefühlsebenen eindringt. Ich selber war auch nicht frei von Tränen.

Wie haben Sie solche Situationen wie etwa mit Barbel und Andrea verkraftet? Was passierte, als die Kamera abgeschaltet war? Ging die Auseinandersetzung da weiter?

Was Barbel angeht, dieser Konflikt war bereits vorher da und bestand während des Drehens weiter. Aber das Drehen hatte den Vorteil, dass wir uns offen auseinander gesetzt haben. Wir haben die Gelegenheit wahrgenommen und, vielleicht zum ersten Mal, unsere Positionen deutlich abgesteckt. Barbel hat zu mir Sachen gesagt, die sie mir vielleicht ohne Kamera so deutlich nicht gesagt hätte. Ich kann nur vermuten, welche Motive sie hatte. Sie hat mit einer Deutlichkeit gesprochen, die schmerzte. So hatte ich das nicht erwartet.

Üblicherweise ist die Präsenz des Regisseurs im Film meistens peinlich. In Ihrem Film ist das aber sehr wichtig. War das von Anfang an beabsichtigt?

Ich habe das Treatment in der Ich-Form geschrieben. Damit war auch klar, dass ich vor die Kamera muss. Beim Drehen wollte ich mich aber immer wieder davor drücken, und wenn ich nicht so eine beinharte Produzentin gehabt hätte, die darauf bestand, dass ich ins Bild muss, und den Kameramann auch immer angewiesen hat, mich mit aufzunehmen, dann hätte ich mich bestimmt weniger sehen lassen.

In einer Szene im Archiv in Bratislava lesen Sie in den Akten und geben der Hoffnung Ausdruck, etwas Entlastendes zu finden. Bei der Lektüre seiner Verteidigungsrede vor Gericht kämpfen Sie mit den Tränen – aus Wut oder aus Trauer?

Es ist sicher Trauer. Jahrelang hatte ich nachts so ein Grauen gefühlt und mir meinen Vater auf seinem letzten Gang um sechs Uhr morgens vorgestellt. Wenn ich ihn auch nicht gekannt habe, gibt es doch Bindungen an ihn, die ich nicht kontrollieren kann und die in solch einem Moment ihre Wirkungen tun. Ich weiß, bei der erwähnten Szene, er kämpft um sein Leben. Ich lese das und es ergibt sich vielleicht doch eine Identifizierung mit ihm. Dann tut er mir einfach leid. Genau kann ich es nicht benennen, aber in jenem Moment hat es mich überfallen.