Die Beständigkeit des Mordens

GENOZIDFORSCHUNG Der britische Historiker Ben Kiernan erforscht die massenmörderischen Exzesse vom Altertum bis zur Gegenwart

Kiernan konzentriert sich auf die Massenmorde seit dem 14. Jahrhundert

VON THOMAS HUMMITZSCH

Karthago muss zerstört werden!“ Mit diesem Aufruf, der dem römischen Senator Cato zugeschrieben wird, wurde die Vernichtung der Karthager eingeleitet, die die Römer im Dritten Punischen Krieg vollzogen. Die römischen Truppen ermordeten mehr als 150.000 Bewohner der nordafrikanischen Handelsstadt und versklavten die wenigen Überlebenden. Catos Imperativ gilt seither als einer der eindeutigsten Aufrufe zum Genozid.

Antike Schlachtberichte dienten immer wieder als Vorlage für Massenmorde, wie der Historiker und Völkermordexperte Ben Kiernan in seinem akribisch recherchierten Werk „Erde und Blut“ belegt. Darin spannt er den Bogen von den genozidalen Eroberungen Spartas und Roms über die Massaker der europäischen Siedler an den Ureinwohnern Amerikas, Australiens und Afrikas bis hin zu den Massenmorden der Moderne.

Verfechter der Konvention

Dabei sucht er nach dem roten Faden, der sich durch die Geschichte des Völkermords zieht, und gelangt zu der Ansicht, dass genozidale Gewaltausbrüche oft aus der Verflechtung von Rassismus, Expansionismus, der Verklärung des ländlichen Lebens sowie einer Sehnsucht nach einer vergangenen idealisierten Zeit heraus entstehen.

Ausgangspunkt dieser vergleichenden Untersuchung ist die Frage, ob der Genozid im 20. Jahrhundert einzigartig war. Um diese zu beantworten, müsse man zunächst eine bestimmte Definition vornehmen und diese dann auf frühere und spätere Ereignisse anwenden. Die Genozid-Konvention der Vereinten Nationen reicht ihm hierfür nicht aus, weil sie ausschließlich bei dem Nachweis der Vernichtungsabsicht nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Gruppen anwendbar ist. Diese Einschränkung kritisiert Kiernan als Gründungsdirektor des Genozid-Studienprogramms an der Yale-Universität seit Jahren. Denn die Vernichtung von sozialen oder politischen Gruppen, wie sie z. B. in Kambodscha erfolgt ist, ist von der Konvention nicht abgedeckt. Kiernans Genozid-Begriff überschneidet sich deshalb mit der Definition von Verbrechen gegen die Menschheit. Daher berücksichtigt er in seiner Untersuchung auch Sozio- und Politizide sowie Massentötungen im Zuge von Versklavung oder anderen unmenschlichen Behandlungen. Verfechter der Konvention werden diesen weiten Genozid-Begriff kritisieren. Kiernans Geschichtsschreibung des Genozids schadet es aber nicht, da er die Annahme einer biologisch begründeten Überlegenheit der Tätergruppe und damit den von der UN-Konvention berücksichtigten Straftatbestand der rassischen Verfolgung nachweisen kann.

Seine Ausführungen konzentrieren sich vor allem auf die Massenmorde seit dem 14. Jahrhundert. Wie Kiernan aufzeigt, beruhten genozidale Exzesse in der frühen Neuzeit hauptsächlich auf Expansion und der dabei praktizierten Demonstration der empfundenen, natürlichen Überlegenheit durch die Angreifer. Beispiele liefern das Vorgehen der spanischen Konquistadoren in Zentralamerika oder die Eroberung Koreas durch Japan. Mit dem Aufkommen des Siedlerkolonialismus trat die Glorifizierung der agrarischen Lebensweise als ein Auslöser genozidaler Gewalt in besonderem Maße in den Vordergrund.

Sie ging einher mit dem Glauben an das „Recht des Stärkeren“. Dieses Naturrechtsverständnis, von John Locke befördert, machte die sich oft dezentral und sukzessive vollziehenden Massentötungen der Indianer, Aborigines und afrikanischen Ureinwohner durch die europäischen Siedler möglich. Im 20. Jahrhundert führten insbesondere nationalchauvinistische Diktaturen Genozide herbei. Auslöser war meist deren Untergangsapologetik, die vorrangig dem Ziel diente, „reale oder vermeintliche territoriale Verluste wettzumachen oder neue Regionen etablierter Mächte zu erobern“.

Vereinzelt tauchen in Kiernans Argumentation Lücken auf. So wurde im stalinistischen Russland das Bauerntum keineswegs nur idealisiert, sondern durch die Entkulakisierungskampagnen auch zerstört. Dem Massensterben im maoistischen China lag „kein nennenswerter Rassismus“ oder ein Motiv für expansionistische Bestrebungen zugrunde, sondern eher eine Hungersnot. Auch die Betrachtungen jüngerer Massenmorde besitzen aufgrund der verkürzten Präsentation nicht mehr die Überzeugungskraft der vorangegangen Ausführungen.

Dennoch ist dem Autor mit „Erde und Blut“ ein beeindruckendes Standardwerk zur Geschichte und Struktur des Völkermords gelungen, das eine umfassende Darstellung der gezielter Massentötungen vom Altertum bis zur Gegenwart bietet und damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Völkermords leistet.

■ Ben Kiernan: „Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis zur Gegenwart“. Aus dem Englischen von Udo Rennert. DVA, München 2009. 912 S., 34 S/W-Abbildungen. 49,95 €