Der schönste Platz im All

Das ewig faszinierende Gegensatzpaar Vorher/Nachher: Mutter spielten im Festsaal Kreuzberg, und ganz kurz fällt auf jeden ein kleiner Strahl echter Mutter-Glamour

Irgendwie lag Aufregung in der eigentlich sehr abgeklärten Luft der Verbrecherversammlung. Diesmal keine Lesung, sondern ein Konzert von Mutter. Die häufen sich in den Wochen seit der Berlinale, wo ihr Film „Wir waren niemals hier“ Premiere hatte, zwar ein wenig, haben aber trotzdem, was man früher gern Kultstatus nannte. Es hatte ein wenig was von Veteranentreffen, wie drei Viertel schwer gewordene Jungs und ein Viertel Frauen mit guten Nerven in den ehemaligen türkischen Festsaal Kreuzberg zwischen Moschee und Autohaus strömten. Die Musiker der Band stehen vor dem Gig Bier trinkend zwischen dem Publikum und reden mit Freunden. Dann endlich tritt Verbrecherverleger Sundermeier auf die Bühne und ermahnt uns gleich, lieber nicht auf die Tische zu klettern. Sind wir dazu nicht eh zu alt? Einige steigen dann aber doch immerhin auf ihre Stühle, andere erklimmen den Balkon, der mit seinem dürren Holzzäunchen aussieht wie eine Westernkulisse.

Dann geht es los. Aus dem Stand ist alles so, wie es sein soll bei Mutter. Max Müller startet seinen Sprechgesang über alte Rollen, die Schuld der anderen und das ewig faszinierende Gegensatzpaar Vorher/Nachher. „Weil du etwas sein willst, was du nie warst. Warst! Warst!“ Seine Texte haben fast alle was schwer Existenzphilosophisches. Das könnte nerven oder anachronistisch wirken, kommt bei Mutter aber immer noch als eine ernst gemeinte Kampfansage rüber. Darauf beharren, sein Ding zu machen, egal ob man damit Erfolg hat oder Anerkennung bei Autoritäten, Eltern oder Medien findet. Zwanzig Jahre Mutter beweisen an solch einem großartigen Abend eben auch: Es geht! Und es geht weiter.

Die Mädchen am Tisch vor uns teilen sich inzwischen ein Taschentuch, um sich die Ohren zu verstopfen. Schlagzeuger Flori zieht Jeansjacke, T-Shirt und Brille aus, um schön brachial auf sein Drumset einzuhauen. Der noch ziemlich neue Gitarrist – im Film verfolgte man den dramatischen Ausstieg von Frank Behnke beim Bandessen in einer Kneipe – ist richtig gut, haut fast schön-melodiöse Riffs raus. Sogar Max Müller ist richtig gut gelaunt, zieht seine Klamotten bis aufs Unterhemd aus und lobt immer wieder das Publikum: „Ihr seid besser als Hamburg, besser als Düsseldorf.“ Er hält eine Rede gegen Neoliberalismus und kündigt ein Stück an, von dem wir noch „unsren Enkeln erzählen werden“. Dazu lässt er die Scheinwerfer runterdimmen und will nur das Licht der rotierenden Discokugel. So fällt auf jeden von uns ein kleiner Strahl echter Mutter-Glamour.

Zwischendurch erinnert der Sound kurz an Velvet Underground, dann geht wieder alles kaputt. Müller nimmt die Mundharmonika und singt wieder persönlich Programmatisches: „Es gibt nur ein Zuhaus. Zu spät! Liebe! Michael! Micha!“ Und dann die Zusammenfassung all der Raserei um uns herum: „Es gibt nur eine Zeit. Die neue Zeit. Die alte Zeit ist tot. Tot!“ Unsere Kraft schwindet. Zum Glück gibt es genau die richtige Zugabe. Zum Mitsingen, der Mutterhit. Alle: „Und die Erde wird der schönste Platz im All. Und die Erde …“

ANDREAS BECKER