Normalität von Millionen

Ohne Geständniszwang geht gar nichts: Alfred Kinsey wollte die menschliche Sexualität mit den Mitteln des Positivismus erfassen. Bill Condons Biopic „Kinsey“ lässt jede Skepsis darüber vermissen

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

In unseren Kreisen und Zeiten ist es lange her, dass jemand über Sexualität in den Kategorien von normal und pervers gesprochen hat. Man hört die Begriffe zwar in letzter Zeit manchmal wieder von Jüngeren, Rappern und Neotraditionellen aller Konfessionen. Aber wer nimmt sie schon ernst? Es gibt, wie wir alle wissen, keine sexuellen Perversionen. Es gibt gewalttätigen Sex, es gibt sexuellen Missbrauch. Das einzige Kriterium, das gegen eine sexuelle Praktik sprechen kann, ist dabei aber immer, dass sie eine andere Person einschränkt, verletzt oder quält. Es ist kein Kriterium, das im Sexuellen liegt.

Das ist bei Alfred Kinsey ganz anders. Hier ist Normalität das einzige Kriterium, um das es geht. Kinseys große Leistung sei es, so argumentiert Bill Condons Biopic, die Grenze der Normalität erweitert zu haben. Und zwar nicht durch das Entmystifizieren von Sexualität und sexuellen Praktiken, sondern indem er den – nicht unumstrittenen – Beweis antrat, dass alles, was sexuell denkbar ist, auch von jemandem praktiziert wird, oft in bemerkenswerter Zahl. Die große Zahl garantiert die Normalisierung. Die Befreiung lag nicht darin, dass mir erlaubt wurde, schön zu finden, was ich tue, weil es mir gefällt, sondern weil es Millionen von anderen kleinen Schmutzfinken da draußen gibt, die es genauso treiben. Darum dürfen wir das auch, es ist natürlich, es ist normal.

Wenn es Kinsey nicht gegeben hätte, hätte Michel Foucault ihn sich ausdenken müssen. Selten hat eine Figur die Idee des Historikers, dass die Macht den Sex in den Griff bekomme, indem sie das Sprechen über Sex fördere und kontrolliere, anschaulicher verkörpert. Auch die Ausweitung der Normalitätszone ist ohne Geständniszwang nicht zu haben. Deswegen ist es so wichtig, dass alle auspacken, sogar der eigene Vater. Alles ist halb so schlimm, weil es zu jeder Praktik einen anderen gibt, der sie auch betreibt. Sollte es dann noch Probleme geben, sind sie organischer Natur oder beruhen auf mangelnder Aufklärung.

Einmal raunt Kinsey, nachdem er einer Patientin Bau und Gebrauch ihrer Klitoris und ihrer Vagina erklärt hat, seinem Assistenten zu: „Und die Psychoanalyse hätte sie für frigide erklärt.“ Dem widerspricht der Film an keiner Stelle. Sein Positivismus des Organisch-Körperlichen ist ungebrochen. Sex im Kopf, Begehren, Wünsche, Fixierungen, Fetischismen kennt er nicht. Lustigerweise stimmt daher auch ein Argument, das seine konservativen Gegner ihm vorhalten. Er hat keine Moral. Natürlich meinen die damit den klerikalfaschistischen Repressions- und Verdrängungsapparat, von dem der Professor die Amerikaner dankenswerterweise befreit haben soll. Aber dieser Film-Kinsey versteht Sex gar nicht als Verhalten unter Menschen. Er ist ein typischer Naturwissenschaftler der 50er, der offen über seine behaviouristischen Neigungen und seinen statistischen Zählzwang spricht. Wahrscheinlich war er genau so – aber dazu kann ein Film 50 Jahre später eine andere als bestenfalls staunende Position einnehmen.

Die erzlangweiligen Bilder von im Geschmack der Zeit kostümierten Menschen in Campus-Parks, an malerischen Seen und vor ehrwürdigen Universitätspforten haben aber mit Positionen nichts am feschen Hut. Nur da, wo eine Konsequenz von Kinseys These die ganz großen Tabus antastet, wird die Probe aufs persönliche Exempel gemacht: Ehebruch und Homosexualität, das will einmal durchgespielt werden. Wollen doch mal sehen, ob der steife Prof mit seiner New-Deal-Körperlichkeit auch mit Knaben … Es gibt da einen sehr ansehnlichen Mitarbeiter, mit dem auch Hetero-Zuschauer ins Bett gehen würden. An ihm spielt das Ehepaar Kinsey das einmal durch. Es bleibt, glaubt man dem Film, bei je einem Mal. Mehr will das Experiment nicht, als sich zu vergewissern, dass der auch selber praktiziert, was er predigt. Und wenn er nur einmal die Zehen ins Wasser hält.

Der Rest wird unter die Konventionen des Biopic gekehrt: Jeder große Mann hat einen knarzig konservativen Daddy, den er als Jugendlicher ablehnt und mit dem er sich auf dessen Sterbebett versöhnt. Jeder große Mann hat eine verständnisvolle, wunderbare Ehefrau, die schon mal die Stirnfalten kräuselt – aber deren große unerschütterliche Liebe alles aushält. Jeder große Mann hat eine verrückte These, die bald die ganze Welt nachbetet. Und jedes Biopic schildert von Minute 55 bis 89 eine Krise dieses großen Mannes. Hier: das Zusammentreffen von kulturellem Backlash draußen und Kinseys Workaholism drinnen. Dem Mann hätte eine Psychoanalyse übrigens wirklich ganz gut getan. Seit wann verspüren Sie den Drang, anderer Leute Sexualität durchzählen zu müssen?

Wie viele filmisch langweilige Produkte der letzten Zeit kompensiert auch „Kinsey“ durch ein ideenreiches, aufgewecktes Grafikdesign. Wie in den 30er-Jahren, als Trickabteilungen sich selbst abreißende Kalender und sich stapelnde Zeitungen mit einander überbietenden Headlines zum Fall der Hauptfigur erfanden. Hier wirbeln hunderte von Gesichtern, die die Frage „Bin ich normal?“ brüllen, über eine US-Karte, und einmal wird der Leitbegriff der Normalität tatsächlich erschüttert. Die Kunst des Morphing biegt weitere ungesehene Bildfolgen herbei. Man sieht allerdings auch schon gleich die Parodie in einer der nächsten Simpsons-Folgen vor sich.

„Kinsey“ wurde gelegentlich für seine Aktualität gelobt. Schließlich wollen heute wieder US-Jugendliche unbedingt jungfräulich in die Ehe gehen. Schließlich interessiert heutige US-Bürger das unbedingte Unterbinden von homosexuellen Hochzeiten angeblich mehr als der Irakkrieg. In Deutschland wird eine Autorin ernsthaft politisch diskutiert, die 68 als eine Epoche des kollektiven Kindesmissbrauchs darstellt. Ganz offensichtlich gibt es ein neues Niveau sexualpolitischer Auseinandersetzungen; sein Name ist „50er-Jahre“. Aber war nicht schon immer der größte Fehler, sich vom Gegner das Niveau vorgeben zu lassen? Zumal erst dann die Selbstverständlichkeiten endgültig verloren gehen, die einem das Gefühl geben, in der Gegenwart zu leben.