Die Staaten der kleinen Leute

In weiter Ferne sich manchmal auch nah: Umsichtig argumentierend erläutert der Historiker Wolfgang Schivelbusch frappante Ähnlichkeiten zwischen Nazideutschland und den USA vorm Zweiten Weltkrieg. Die Studie „Entfernte Verwandtschaft. Faschismus. Nationalsozialismus. New Deal 1933–1939“

Der Ursprung der Ähnlichkeiten liegt in der Einhegung der Kapitalwirtschaft

VON JÜRGEN BUSCHE

Zu den großen Rätseln der Zeitgeschichte gehört die rasche Verwandlung von fanatischen Hitler- oder Mussolini-Anhängern in begeisterte Gefolgsleute der parlamentarischen Demokratie nach amerikanischem Vorbild in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. War es blanker Opportunismus, war es Korrumpiertheit durch bis dahin nie gekannten Wohlstand oder war es eine Folge der heilsamen, weil totalen Niederlage Deutschlands und Italiens? Mal ist die eine, mal die andere Antwort stärker betont worden. Immer wieder tauchte auch der Argwohn auf, dass zumindest die Deutschen sich beim Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur zur Wirtschaftswunder-Macht der Adenauer-Ära politisch so sehr gar nicht umstellen mussten. Was hat es damit auf sich?

Dieser Frage geht Wolfgang Schivelbusch in seinem neuen Buch nach, das den leicht als denunziatorisch aufzufassenden Titel trägt. „Entfernte Verwandtschaft“ – wie entfernt auch immer – jedenfalls also: Verwandtschaft. Die Rede ist von Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal. Das Thema ist auch schon in den USA angedacht worden, und dort wie hier jetzt bei Schivelbusch geht das einher mit der gewiss ehrlichen Versicherung, eine Gleichsetzung der historischen Gegebenheiten diesseits und jenseits des Atlantik sei keineswegs beabsichtigt und eine Einebnung der gewaltigen Unterschiede schon gar nicht. Was aber ist beabsichtigt?

Schivelbusch will frappante Ähnlichkeiten erklären, die zwischen den feindlichen Mächten vor dem Zweiten Weltkrieg bestanden. Diese Ähnlichkeiten haben das Ende des Kriegs überstanden und das umstandslose Ende der Feindschaft ermöglicht. Diese Ähnlichkeiten aber, und das ist das Bemerkenswerte, stehen kaum in einem Zusammenhang mit dem, was der deutschen Katastrophe ihre grauenhaften Züge gab und große Teile eines Volks zum Komplizen entsetzlicher Verbrechen werden ließ. Von Verwandtschaft kann, daran lässt Schivelbusch keinen Zweifel, eben nur begrenzt die Rede sein, das gilt auch für das Gegenüber von Faschismus und Nationalsozialismus.

Das entscheidende Ereignis für die Herausbildung vergleichbarer Programme bei der Krisenbewältigung in den verschiedenen Ländern und die Akzeptanz dieser Programme lag in der Rückkehr des Staates und politischer Führung zur Bewältigung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Aufgaben. Der Liberalismus, zumindest der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hatte versagt. Die Verluste der liberalen Entwicklung waren zu groß, Raubbau an der Natur, auch an der Natur des Menschen, drohte ins Unerträgliche zu wachsen. Es musste Steuerungskompetenz her, gemeinsames Handeln wurde als dringend empfunden. Der Staat aber, der nun zurückkehrte, gab sich nicht als Obrigkeitsstaat, sondern als Staat der kleinen Leute (in den USA), als Staat der Volksgemeinschaft (in Deutschland). An der Spitze des Staates stand ein Führer, der, einer von ihnen, aus ihrer Mitte hervorgegangen war und auf dieses Image Wert legte (Hitler, Mussolini) oder den Eindruck erzeugte, dies sei so (Roosevelt mit seinen Radioansprachen). Wo dieser Staat protzig auftrat, protzte die Kulisse mit ihren tausenden und abertausenden Aufmarschierenden oder Zujubelnden selbst; eingeschüchtert sollten und konnten sich nur die Individualisten, die Einzelgänger, die isolierten – zu Feinden erklärten – Minderheiten in der Gesellschaft fühlen.

Schivelbusch beginnt seinen umsichtig argumentierenden Essay mit einem Hinweis auf die Rückkehr der Monumentalbauten in den öffentlichen Raum. Damit ist auch der Kommunismus sowjetrussischer Ausprägung in die Überlegungen einbezogen, was der Autor auch noch an anderer Stelle zulässt, aber nicht weiter thematisiert. Mit solchen Bauten unterbreitet nun die Politik der Bevölkerung ein Angebot, sich mit dem Staat und seinem imposanten Auftreten zu identifizieren, im Ganzen dieses Staates gesellschaftliche Unterschiede aufzuheben. Wer heute wie vor 40 oder vor 70 Jahren das Berliner Olympia-Stadion schön findet, muss nicht sagen: „Oh je, ich finde schön, was die Nazis schön fanden!“ – er mit ebenso viel Recht sagen: „Die Nazis haben das gebaut, weil sie wussten, dass ich es schön finde und mit mir Zehntausende, wenn sie zusammenkommen.“

Der Ursprung der Ähnlichkeiten in den verschiedenen Ländern liegt in der Einsicht, dass schrankenlose Industrialisierung und ungehemmte Kapitalwirtschaft, wie sie das 19. Jahrhundert forciert hatte, so nicht länger toleriert werden dürften. Schon mehr als 20 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gab es allenthalben Anstrengungen, dem Grenzen und Einhalt zu schaffen. Der Kriegsausbruch 1914 drängte diese Aktivitäten zurück. Nach dem Krieg aber musste, was vorher aus der Lage des Reichtums, des Überflusses avisiert und entworfen worden war, in einer Situation der Armut, ja des Elends angegangen werden. „Das geschah“, schreibt Schivelbusch, „im Verliererlager von 1918 früher und elementarer als auf der anderen Seite. Doch diese konnte sich lediglich einer Schonfrist von weniger als zehn Jahren erfreuen. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise von 1929, die man richtiger den Weltwirtschaftszusammenbruch oder die Weltniederlage des liberalen Kapitalismus nennen müsste, trat der Ernstfall für die gesamte kapitalistische Welt ein.“

Roosevelt und seine Freunde bewunderten Mussolini und das, was unter der Führung seiner Partei in Italien geschah. Die Aufbruchstimmung in der Gesellschaft zeitigte Ergebnisse, die auch in Europa von Leuten bewundert wurden, die den Faschismus ablehnten. Als sich nach 1933 in Deutschland scheinbar das Gleiche bewegte, hielten sich die Amerikaner mit Bewunderung zurück. Einmal waren die propagierten Ziele des neuen Regimes zu abstoßend, zum anderen sah man das Wiedererstarken des lange genug dämonisierten Deutschland mit unguten Gefühlen. Die von den Nazis gelenkte deutsche Presse dagegen sparte nicht mit Beobachtungen zur Politik der USA, die Chancen zur Bestätigung der eigenen Politik anboten. Der Völkische Beobachter registrierte „Roosevelts Anlehnung an nationalsozialistische Gedankengänge“, insgesamt war man jedoch überzeugt, dass es demokratische Verhältnisse der Politik viel schwerer machten, das Richtige zu tun. Die Opposition in Amerika – und nicht nur sie – sah Roosevelts Politik nach Zielen und Methoden in der Nähe des Faschismus.

Aber da hielt sich der amerikanische Präsident keineswegs auf. Schivelbuschs Untersuchung seziert eine Entwicklungstendenz in kapitalistischen Ländern, deren Ursprünge er im 19. Jahrhundert sichtbar macht und die in einigen dieser Länder zu verwandten Reaktionen führten – wie auch nicht, wenn etwa, was Schivelbusch anmerkt, die USA ihre Eliten auf Universitäten schulten, die sie strikt nach preußisch-deutschem Vorbild ausgerichtet hatten. Was Schivelbusch in diesem Essay nicht eigens thematisiert, sind die Entwicklungstendenzen in westeuropäischen Ländern und in den USA, die ein Aufkommen von irgendetwas, was dem Nationalismus auch nur entfernt ähnlich war, schlicht verunmöglichte, wenn es freilich auch Wirrköpfe überall gab. Mögen, wie Schivelbusch es eindrucksvoll tut, Agro Pontino, Tennessee Valley Authority und Reichsautobahn als Projekte nach Planung und Akzeptanz vergleichbar, ja entfernt verwandt sein – was den jungen Menschen in den Schulen und Organisationen, was den jungen Soldaten in die Köpfe gehämmert wurde, hatte nach der Tradition der westlichen Demokratien außerhalb Deutschlands nicht viel Vergleichbares.

Was im Deutschland Hitlers geschah, wurde ins Werk gesetzt, um Krieg zu führen – auch wenn es viele junge Menschen, gerade auch Arbeiter, nach der Depression der Jahre um 1930 anders erlebten. Aber war nicht Krieg die Möglichkeit, von ungedeckten Schecks aus der Aufbruchphase loszukommen? Mussolini überfiel 1935 Abessinien, Hitler bettelte geradezu um die Gelegenheit, loszuschlagen; und Schivelbusch verschweigt nicht, dass Roosevelt, der nichts dergleichen im Sinne hatte, mit seiner Politik des New Deal – „im Grunde, wenn auch unbewusst, faschistisch“ (Gilbert H. Montague) – zu scheitern drohte.

Warum waren viele Menschen in Deutschland von der Politik der Jahre 1933 bis 1939 begeistert? Schivelbusch gibt darauf eine Antwort, die durch den europäischen, europäisch-amerikanischen Rahmen beglaubigt wird. Warum wurden sie, oft dieselben Personen, nach 1945 flugs zu Musterdemokraten, Lieblingsschüler der USA, Vorzeige-Europäern? Weil sie nur Ideologie und Kostüme der Nazis, den Militarismus und ein übersteigertes Selbstwertgefühl fortwerfen mussten, um so zu sein, wie die anderen, denen es gut ging. Glaubten sie jedenfalls anfangs.

Wolfgang Schivelbusch: „Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal. 1933–1939“. Carl Hanser Verlag, München 2005, 224 Seiten, 21,50 €