Hinter der Schulfassade

Die Thomas-Morus-Schule in Neukölln wurde in den vergangenen Wochen zum Symbol verfehlter Integrationspolitik. Bei einer Diskussion am Montagabend entlud sich der Frust der LehrerInnen

Marieluise Beck warnt vor Pauschalurteilen: „Es sind nicht die Migranten“

VON PATRICK BAUER

Vor der Aula stehen Polizisten mit Metalldetektoren. Das kahle Treppenhaus hinauf, an den verblichenen Schülergemälden vorbei, und dann werden dort tatsächlich die Taschen durchsucht. „Wie in Amerika“, sagt eine Mutter. Es klingt erschrocken. Noch sind solche Sicherheitsmaßnahmen die Ausnahme an der Thomas-Morus-Hauptschule in Neukölln, am nächsten Morgen werden die Schülermassen wie jeden Tag durch die weiten Gänge strömen und lärmen. Am Montagabend aber ist es merkwürdig still. Nur die Detektoren piepen unaufhörlich.

Die Aula der Thomas-Morus-Schule ist wenig repräsentativ. Sie ist eng, die Decke tief. An die Tafel hat jemand mit krakeliger Schrift geschrieben: „Diese Schule ist …“ Das letzte Wort wurde verwischt. Hinten im Raum steht ein Klavier. Ein bulliger Glatzkopf mit einem Knopf im Ohr lehnt daran und beobachtet streng, wie sich immer mehr Menschen in die Sitzreihen zwängen. Rund 300 werden es schließlich sein. Viele müssen stehen.

Der Schulsenator ist da. Klaus Böger begrüßt „den Heinz“, Heinz Buschkowsky, SPD-Bezirksbürgermeister von Neukölln. Auf Einladung des Bundestagsabgeordneten und Parteigenossen Ditmar Staffelt sind sie gekommen, um über Integration und Toleranz zu sprechen, genauso wie Marieluise Beck, die Integrationsbeauftragte des Bundes, und Caciddin Yatkin von der Türkischen Gemeinde Berlin.

Die Thomas-Morus-Schule wurde in den vergangenen Wochen zum Symbol gescheiterter Integrationspolitik, zum Schreckensbeispiel für eine Ghetto-Bildungsstätte, an der die Schüler mit Migrationshintergrund nicht mehr zu kontrollieren sind. Seitdem Schulleiter Volker Steffens an die Öffentlichkeit gegangen ist. Seitdem er berichtet hatte von den drei Achtklässlern, die während einer Diskussion im Unterricht den grausamen Mord an Hatun Sürücü begrüßt haben sollen. Die 23-jährige Deutschtürkin war am 7. Februar in Tempelhof erschossen worden. Wahrscheinlich von einem ihrer Brüder, wahrscheinlich wegen ihres modernen Lebensstils.

Klaus Böger wird später sagen, es sei wichtig, solch einen Dialog zu führen. Aber die Äußerungen wären nicht akzeptabel. So richtig klar wurde nie, welche Worte fielen, aber die Empörung war groß, auch die Bewunderung. Für Volker Steffens, für dessen Mut. Nun steht der hagere Mann im hellen Jackett etwas unsicher vor dem Podium. Er weiß nicht, wohin mit seinen Händen, sein Blick ist hastig. Hat er gewusst, was er mit seinem Schritt auslösen würde? Steffens schüttelt den Kopf.

Viele Menschen mit warmen Worten und wichtigen Namen gehen auf ihn zu. Sie sichern ihm Unterstützung zu, loben ihn. Volker Steffens ist müde: 57 Presseanfragen erreichten sein Sekretariat, nachdem er den Vorfall öffentlich gemacht hatte, selbst aus Frankreich. Zuletzt ließ er sich einfach verleugnen. Zu Beginn der Diskussion sagt der Direktor mit schleppender Stimme: „Ich danke allen Kolleginnen für die Unterstützung!“ Steffens stockt. Tosender Applaus.

Im Publikum sitzt fast das gesamte Lehrerkollegium, einige Eltern noch, auch ein paar Migrantenvertreter – und in der ersten Reihe Berliner Politprominenz. Schüler sind nicht anwesend. „Die meisten hier kenne ich gar nicht“, sagt ein Lehrer. Es kommt nicht oft Besuch an die Thomas-Morus-Schule. „Sonst schmoren wir im eigenen Saft“, flüstert eine Kollegin. Welten prallen hier aufeinander, sagt sie. Die Schule hat einen Ausländeranteil von 80 Prozent. Eigentlich seien alle Schüler sehr freundlich, aber hinter die fremde Fassade könne man nicht blicken. „Der Weg von Herrn Steffens ist richtig“, sagt die Lehrerin, „aber eigentlich sollte man die Eltern der drei Schüler bestrafen.“

Bisher hat es nur die Schüler getroffen: Einer der drei muss wahrscheinlich die Schule verlassen, einer bekam einen schriftlichen Verweis, einer muss sich in Form eines Referats mit Opfern familiärer Gewalt auseinander setzen. Viele Lehrer betonen, die Entscheidung, die drei Schüler zu bestrafen, sei eine gemeinsame gewesen. Es musste ja etwas passieren, es ging so nicht weiter.

Volker Steffens sagt, die Fälle, die hier diskutiert werden, seien nur ein Teil von gravierenden Entwicklungen, die sich schon lange angedeutet hätten. „Im Verhältnis zwischen Schülern und Lehrerinnen können Blicke sehr diskriminierend sein. Es wird vor Lehrern ausgespuckt, Mitschülerinnen ohne Kopftuch leiden.“ Unter den Zuhörern wird eifrig genickt, die Mienen sind angespannt. Klaus Böger sagt: „Wir haben zu lange unsere kulturellen Werte wegdrängen lassen, wir sind zu wenig selbstbewusst gewesen.“ Er trifft den Nerv der anwesenden Lehrerinnen. „Ja! Das ist es“, ruft eine erleichtert. So, als fiele eine Last von ihr, als hätte endlich jemand das Schultor aufgestoßen, hinter dem sie seit Jahren verzweifelt.

Heinz Buschkowsky sorgt in dieser hitzigen Stimmung, die an eine 7. Stunde im Hochsommer erinnert, für große Zustimmung. Weil er sagt, die Schule habe zu Recht ihr Image aufs Spiel gesetzt: Auch Neukölln komme nur durch das Aussprechen der Probleme weiter. Weil er zum Islamunterricht sagt: „Weg damit!“ Weil er so populistisch und vehement die Fehler der „falschen political correctness“ aufzählt. Er sagt: „Was ich sage, ist vielleicht rechtlich nicht ganz tragbar.“ Aus der unruhigen Aula schallt es zurück: „Aber so richtig!“

„Wir schmoren hier im eigenen Saft“, flüstert eine Lehrerin

Es bleibe keine Zeit für Diskurse, sagen die Lehrer. 15 Jahre beklagten sie sich nun – da sorgt Marieluise Beck mit ihren gut gemeinten Ausführungen über die Grundsätze von Integration für ungeduldiges Zappeln wie kurz vor Schulende. „Wir machen hier keine Fortbildung“, schimpft eine Lehrerin. Fortbildungen habe das Kollegium schon viele absolviert. Der Altersdurchschnitt der Pädagogen liegt bei 50,6 Jahren. Marieluise Beck warnt vor Verallgemeinerungen: „Es ist nicht der Islam, es sind nicht die Migranten.“ Doch unter den LehrerInnen raunt man sich zu: „Die wollen doch gar nicht!“, oder: „Die hocken doch nur zu Hause!“ Es hat sich vieles angestaut, „weil wir nie gehört wurden“. Caciddin Yatkin von der Türkischen Gemeinde sprach von vielen Fehlern bei der Integration, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Replik einer Lehrerin: „Nicht nur wir müssen was tun, die Migranten doch auch.“ Und selbst wenn Klaus Böger oft Beifall erhält für seine vehementen Worte, scheint man ihm nicht richtig zu trauen. Eine Pädagogin fragt: „Ist das der Typ, der uns als faul bezeichnet hat?“

Heinz Buschkowsky ist ein Kämpfer. Die LehrerInnen lobt er für den Einsatz „an der Front“, „gegen ein Bollwerk“, „in vorderster Reihe“. Und sie schauen sich zustimmend an. Eine Lehrerin berichtet, Schüler würden sie „Hure“ nennen, weil sie unverheiratet mit einem Mann zusammenlebt. Weicht sie Schülern aus Höflichkeit aus, sei ihre Autorität nichts mehr wert. Das müsse doch mal gesagt werden. So sei das, in Neukölln-Nord. Und auch anderswo.

Als sich ein arabischer Mann darüber beklagt, dass kaum Migranten anwesend seien und nur „unter sich“ diskutiert werde, erntet er Hohn: „Kommen Sie mal zu einem Elternabend, da sind die auch nicht“, sagt ein Lehrer. Schulleiter Steffens spricht von erschöpften Kollegen, die mit letzter Kraft ackern: „Die Hauptschule ist der Ausputzer der Nation.“ Es fehle die Anerkennung. Die hat Steffens nun erhalten. Doch morgen, sagt ein Lehrer, gehe es um acht Uhr weiter. Wie immer. Wie jedes Jahr.

Draußen in der kalten Neuköllner Nacht verabschieden sich nach zweieinhalb Stunden Diskussion zwei LehrerInnen. Der Mann sagt, sein Wecker klingele schon bald wieder. „Na und?“, sagt die Frau, „ist das ein Grund, jetzt nicht saufen zu gehen?“