Schweres Los ohne Feind

Wie man mit wenigen Worten große Wirkung erzielt: David Bezmozgis erzählt in seinem Debüt „Natascha“ erstaunliche Geschichten aus Torontos jüdischer Community

Ganz erstaunliche Einwandererstorys erzählt der Kanadier David Bezmozgis in seinem Debütband „Natascha“. Erstaunlich, weil diese Geschichten mal nicht vom Leid im Herkunftsland, in diesem Fall dem noch zur Sowjetunion gehörenden Lettland, oder den Beschwernissen von Aufbruch und Flucht handeln.

Die Familie Berman und ihr Sohn Mark, aus dessen Sicht die Storys erzählt werden, haben es erst dann schwer, als sie am Ort ihrer Träume angekommen sind: in Toronto. Sie, die wie viele andere Juden auch in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren die Sowjetunion verlassen durften, stehen im kapitalistischen Kanada erst mal vor dem Nichts. Vater Roman, der als Trainer unzählige sowjetische Gewichtheber zum internationalen Erfolg führte, muss bald einen Job in der Schokoladenfabrik annehmen. Nebenher will er sich eine Massagepraxis aufbauen, doch Kundschaft bleibt rar. Mutter Bella, nicht an die soziale Isolation und den täglichen Existenzkampf gewöhnt, bricht einmal pro Woche zusammen.

In dieser Umgebung wachsen Mark und seine Schwester Jana heran, durchleben die Pubertät und beginnen für sich selbst zu sorgen. Die wenigen Rückblicke auf das Leben in der Sowjetunion sind weder nostalgisch noch verteufelnd. „Für einen Juden war er bei seinen Vorgesetzten wohlgelitten“, sagt Mark über seinen Vater und bringt damit die sichere, aber marginalisierte Existenz früherer Jahre auf den Punkt. Als Roman bei einem Gewichtheberwettkampf in Toronto einem sowjetischen Sportfunktionär sein Leid über die Härte im kapitalistischen Alltag klagen will, bekommt er zur Antwort: „Glaub mir, dein schlimmster Tag ist besser als mein bester.“

Ein typischer Satz für „Natascha“. Bezmozgis erzielt häufig mit wenigen Worten große Wirkung. Seine Geschichten spielen allesamt in Torontos jüdischer Community, die nicht zufällig zu großen Teilen aus russischen Auswanderern besteht. Man hilft sich, wo man kann, und wenn nichts mehr geht, muss der Rabbi auch mal den Wohnungsvermittler oder den Berufsberater machen. Viele stellen sich hier die Frage, warum sie nicht nach Israel gegangen sind, wo sie es vielleicht leichter hätten, und Mark sagt über seinen Opa, der dorthin emigriert ist: „In Israel, umgeben von 150 Millionen zornigen Arabern, wusste er zumindest, wer der Feind war.“

Obwohl Bezmozgis’ Geschichten alle in sich und auch zusammengenommen einen Abschluss haben, möchte man am Ende unbedingt wissen, wie es nun mit Familie Berman weitergeht, ob Vater Romans Massagepraxis wieder schließen muss, ob Mutter Bella wieder auf die Beine kommt, was aus Mark wird, kurz: ob solche Leute es auf Dauer im kapitalistischen Westen aushalten. Aber das Buch ist zu Ende. Und die Antwort ist klar. Es gibt ja nichts anderes mehr.

MAIK SÖHLER

David Bezmozgis: „Natascha“. Storys. Aus dem Englischen von Sylvia Morawitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 192 Seiten, 16,90 Euro