„Multikulti ist verantwortungslos“

Die Menschenrechtsaktivistin Seyran Ates, 41, fordert eine Verschärfung des Strafrechts, um türkische Einwanderinnen vor Gewalt und so genannten „Ehrenmorden“ zu schützen: „Die Linken und Liberalen sind immer nur ratlos und veranstalten Tagungen und suchen den Konsens – das ist zu wenig“

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

taz: Frau Ates, glauben Sie an Gott?

Seyran Ates: Ja. Weshalb fragen Sie?

Weil es aus islamischen Kreisen heißt, Sie seien eine Nestbeschmutzerin, fern von Gott.

Typisch: nur weil ich den Multikultifrieden nicht einhalten will.

Was haben Sie gegen Multikulti?

Oberflächlich gesehen nichts. Ein schönes Wort. Aber ein Deckmantel für eine Ideologie, die nicht hingucken will.

Worauf denn?

Wie es in den türkischen Communities – und über die kann ich hauptsächlich sprechen – wirklich aussieht.

Was sehen Sie, was andere nicht sehen können oder wollen?

Dass die Idylle trügt. Dass in Berlin, in Kreuzberg zum Beispiel, das Bunte nur von den Deutschen kommt – nicht von den Türken selbst. Die türkische Kultur dort ist grau …

Der Karneval der Kulturen …

… ist eine deutsche Fiktion.

Wie bitte?

Niemand schaut nach oben. Die Häuser hoch. Dort sieht man die Frauen, die auf keinen Fall mitmachen dürfen, die gucken hinter ihren Gardinen zu. Frauen, die manchmal nicht mal wissen, wo sie sind – sie sind eingesperrt.

Warum meiden sie das pralle Leben?

Sie sind ja zwangsverheiratet worden und wissen genau, dass sie ihr Leben gefährden, wenn sie sich nicht an das halten, was ihre Familie ihnen als Pflicht aufgibt: sie dürfen nicht auf die Straße.

Was heißt Pflicht in erster Linie?

Dem Manne zu gehorchen, ihm eine gute Ehefrau zu sein und die Kinder großzuziehen. Das sind Sklavinnen auf dem muslimischen Ehemarkt.

Aber man sieht doch viele junge Frauen mit türkischer Herkunft, die in Berlin leben, wie sie möchten.

Klar gibt es die. Frauen wie Hatun Sürüncü. Die ihre Familien verlassen müssen, um ihr Leben zu leben. Selbstbestimmt. Hatun hat das ihr Leben gekostet – hingerichtet von ihren Brüdern, weil sie sich dem Zwang ihrer türkischen Familie verweigerte.

Sie habe gelebt „wie eine Deutsche“.

Richtig – und an dieser Wendung kann man gut ablesen, wie lächerlich in der türkischen Community die Idee von Multikulti selbst gehalten wird. Man nimmt die deutschen zivilgesellschaftlichen Standards einfach nicht ernst.

Fühlen auch Sie sich bedroht?

Natürlich. Jede Frau im Westen, die sich den Wünschen ihrer Familie verweigert, ist bedroht. Sie muss immer aufpassen. Unerträglich, aber so ist es.

Kritik an ultrapatriarchalen Lebensverhältnissen in Einwandererkreisen wird von Linken nicht gern geäußert, man fürchtet, als rassistisch zu gelten.

Toll, ganz toll. Dass die Deutschen die Weltmeister sind, wenn es darum geht, bloß nicht als Rassisten zu gelten. Ehrenmorde zu kritisieren, sie zu ächten und das Strafrecht zu ändern, hat nichts, gar nichts mit Rassismus zu tun. Die Leidtragenden dieser besonderen Empfindsamkeit der Gutmenschen gerade dem Islam gegenüber sind wir Frauen.

Muslimen gewogene Ethnologen meinen, Ehrenmorde hätten mit dem Islam weniger, mehr aber mit patriarchalen Verhältnissen zu tun.

Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Nur Multikultifanatiker finden diese Differenz interessant – um abzulenken, dass es jede Menge Probleme gibt.

Vor allem durch die Männer?

Keineswegs. Es gibt auch unter türkischen Frauen viele, die missgünstig sind auf andere türkische Frauen, die, wie hieß das?, „wie eine Deutsche leben“. Als ich in der Schule gut war, meinten Verwandte, na, das geht doch nicht gut. Haben meinen Eltern gesagt, eine höhere Schule bräuchte ich nicht.

Dennoch haben Sie mit Ihrer Familie gebrochen, um ihren Weg gehen zu können – Autorin, Expertin in Fragen muslimischer Integration, heimliche Heldin vieler türkischer Frauen.

Ich musste mich von meiner Familie verabschieden, es ging nicht anders.

Heute passen Ihre Eltern mit auf Ihre kleine Tochter Zoe Sultan auf.

Wir verstehen uns wieder gut, wie eine Familie eben. Ich bin einfach ihr Kind – und sie lieben und verstehen mich. Sie, nein, wir haben gelernt, dass ein Leben „wie eine Deutsche“ sie nicht um ihre Tochter bringt.

Gibt es nicht auch andere Wege für türkische Frauen in Deutschland, sich zu emanzipieren?

Meine Erfahrung spricht dagegen. Sie müssen den Bruch schaffen – sonst nimmt man sie nicht ernst. Und erst, wenn man sie ernst nimmt, kann man sich auch wieder nähern.

Sie fordern neue Gesetze in Sachen Zwangsverheiratung. Den Grünen waren es unbehaglich – als sollten Muslime kriminalisiert werden.

Die haben eine unheimliche Angst, kulturelle Minderheiten an den Grundrechten zu messen. Das hat mich besonders geärgert – wo die Grünen sich immer so hübsch zugute halten, es mit den Menschenrechten ganz genau zu nehmen. Sind Frauenrechte keine Menschenrechte? Zwangsheiraten sind keine Bagatellen. Ich bin tatsächlich dafür, die Gesetze so zu verschärfen, dass sie Frauen schützen – und den Männern zu signalisieren, dass ihr Ehrenkodex vor deutschen Gerichten nicht zählt.

Ehrenmord ist vor deutschen Gerichten schon als Totschlag bestraft worden, weil dem Täter seine kulturelle Prägung angerechnet wurde.

Vielen Dank für dieses besonders beeindruckende Signal für türkische Frauen in Deutschland. Mit kultureller Prägung – als ob die sich nicht auch ändern könnte – hat das nichts zu tun. Ehrenmorde an Frauen sind oft genau kalkuliert worden. Das war kein Trieb, der zwanghaft gelebt werden musste. Das war eine harte, eine mörderische Strafe. Und so muss diese Tat auch geahndet werden.

Manche Familien beauftragen mit einem Ehrenmord den jüngsten Sohn, damit er, wenn überhaupt, nach dem Jugendstrafrecht angeklagt wird.

Was für mich ein weiteres Indiz für die genaue Planung des Verbrechens ist. Eine Frage der Ehre, eine der Kultur? Für mich sind das fürchterliche Ausreden, die von den Gutmenschen gern geglaubt werden. Ich bin dafür, das Jugendstrafrecht so zu verschärfen, dass der Trick, die Jüngsten für eine Mordtat auszusuchen, nicht mehr verfängt.

Im kanadischen Toronto wird ernsthaft debattiert, in muslimisch geprägten Vierteln wenigstens im Zivilrecht die Scharia einzuführen.

Wenn es so wäre, könnte ich keiner Frau empfehlen, dort zu leben. Das wäre eine Bankrotterklärung der Zivilgesellschaft. Was das hieße: Züchtigung, Todesstrafe, Prügel, Entrechtung. Grauenvoll.

Debatten in deutschen Schulen scheinen dieser Tendenz verwandt: Wenn muslimische Mädchen nicht zu Klassenfahrten, nicht am Sportunterricht oder am Sexualkundeunterricht teilnehmen dürfen.

Das sehe ich mit traurigen Augen. Was mich aber empört, ist, dass es nur die Mädchen trifft. Um die muslimischen Jungs geht es nie – immer nur um die Keuschheit der Mädchen. Gerade sie brauchen Wissen um Sexualität. Viele Mädchen müssen sich doch auf Analverkehr mit Jungs einlassen – weil dies die beste Verhütungsmethode ist.

Ist ja auch für die Jungs ein rüdes Sexualleben.

Die spielen doch die andere Seite dieser Tragödie. Sie lernen von anderen Männern, dass Sexualität nur mit Gewalt zu haben ist – das ist für sie und für ihre Frauen eine Katastrophe.

Gibt es nicht auch familiär beschlossene Ehen, die glücklich sein können?

Gegenfrage: Wie sehr muss sich eine Frau auf die Möglichkeit eines Zufalls einlassen? Viele Frauen hören doch in der Hochzeitsnacht, mach einfach die Augen zu und lass es geschehen. Das ist mein Blick auf die Dinge, der in der Bequemlichkeit der Multikultileute nicht vorkommt. Ein Blick, der stört, der den Faulen und Bequemen unter den Linken nicht passt.

Weshalb empfinden Sie sie als faul?

Weil sie sich auf dem guten Gewissen ausruhen, irgendwie nicht rassistisch zu sein. Sie trinken Prosecco und kaufen gesunde Lebensmittel aus allen Ländern – und fühlen sich ziemlich gut. Mir kommt Multikulti wie organisierte Verantwortungslosigkeit vor.

Man will sich eben in andere Kulturen nicht einmischen …

… warum nicht? Wir leben in einem Land. Es ist ein oft tödlicher Fehler, zu schweigen. Warum fordern deutsche Eltern türkische Eltern nicht auf, ihre Töchter auf Klassenreise mitfahren zu lassen? Wir sind eine Gesellschaft, nicht eine Ansammlung von vielen.

In Dänemark hat die rechtskonservative Regierung eine Regelung durchgesetzt, dass nur ins Land darf, wer sich der dänischen Kultur unterwirft – Zwangsheirat fast ausgeschlossen.

Klingt nicht schlecht.

Aber das ist ein Werk von Konservativen, von Rechten.

Na und? Dann ist es das eben. Konservativ muss ja nicht illiberal sein. Und immerhin ist das ein Vorschlag, um den Import von Frauen ohne Rechte zu verhindern. Die Linken und Liberalen und Feministinnen sind immer nur ratlos und veranstalten Tagungen und suchen den Konsens – das ist zu wenig.

Kein Wunder, dass Sie gerade denen als Zumutung gelten.

Damit kann ich leben. 1984, nach dem Attentat auf den Frauenladen, in dem ich gearbeitet habe, hieß es auch schon, dass Frauen wie ich der türkischen Gesellschaft zu weit gegangen wären.

Wie sehen Sie sich selbst?

Eine Frau, die genau in die Nester guckt, die Schmutz enthalten. Das ist mein Job.

Ihr Lebensgefühl?

Ich bin öfter als früher erschöpft. Und ich habe auch Angst. Das ist beunruhigend für mich und meine Familie.

Was sagt Ihr Gott zu dem Leben, das Sie leben?

Der ist mit mir auf meinem Weg.