Ein grausamer Nebeneffekt

Forscher arbeiten immer öfter mit Zellkulturen als Ersatz für Tierversuche. Und so boomt der Absatz von „Fötalem Kälberserum“ – bei dessen Gewinnung ebenfalls Tiere leiden müssen. Künstliche Nährmedien wären eine Alternative

Dann sticht man dem unbetäubten, lebenden Tier eine dicke Nadel ins Herz

VON KATHRIN BURGER

Im Streit um Tierversuche fordern Tierschützer immer wieder den Umstieg auf Zellkulturen. Und viele Forscher nehmen sich dieses Wunsches an, basteln an Alternativmethoden. So sank die Zahl der Versuchstiere seit 1991 um etwa 40 Prozent. Mit fatalem Nebeneffekt. Denn auch für die „alternative“ Zellkultur müssen Tiere leiden. Ein bis zwei Millionen Kälber kommen jährlich qualvoll zu Tode, weil in Zellkulturen „Fötales Kälberserum“ (FCS) zum Einsatz kommt, schätzte die European Biomedical Research Association im Frühjahr 2004.

Der Bedarf an FCS ist deshalb auch in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, berichten internationale Hersteller und Importeure wie Biochrom oder Sigma-Aldrich. Ehemals war FCS ein Abfallprodukt. Es fällt an, wenn ganze Herden, darunter auch trächtige Kühe, unters Messer kommen – eine Vorgehensweise wie in Südamerika, Australien oder den USA, wo Rinder extensiv auf der Weide gehalten werden. Durch die steigende Nachfrage mussten jedoch immer häufiger Aborte künstlich eingeleitet werden. Und es gibt Hinweise, dass in Polen und Ungarn Kühe sogar extra zur FCS-Gewinnung gezüchtet werden.

Für die Gewinnung wird der Kälberfötus mitsamt der Gebärmutter entnommen, abgenabelt und aus der Fruchthülle geschält. Dann sticht man dem unbetäubten, lebenden Tier eine dicke Nadel ins Herz.

Wie qualvoll das Entbluten ist, zeigt eine Studie von Professor David Mellor von der Massey University, Neuseeland, aus dem Jahre 2003: Die Föten atmen bereits und haben eine intakte Gehirnfunktion, während man ihnen ihr Blut abzapft. Das Ganze kann sich bis zu 20 Minuten hinziehen. Als der Spiegel 1997 über die Gewinnung und den mafiösen Vertrieb des Serums berichtete, wurde René Fischer, Molekularbiologe an der ETH Zürich, das Dilemma klar. Seitdem arbeitet er daran, dass die Zahl der FCS-Zellkulturen möglichst schnell wieder sinkt.

In seinem Forschungsprojekt „Serumfrei“ versucht er, verschiedene Zellen an künstliche Medien zu gewöhnen. Nährbrühe, die bereits alles enthält: Proteine, Zucker. Nicht einzelne Substanzen, die der Forscher erst mühsam im Labor zusammenmixen muss.

„Serumfreie Medien werden in Deutschland jedoch noch viel zu wenig verwendet“, klagt Corina Gericke von Ärzte gegen Tierversuche. Ein Grund dafür ist, dass das Universal-Medium noch erfunden werden muss. „Solange es das nicht gibt, wird sich das serumfreie Arbeiten vor allem in der akademischen Forschung nicht durchsetzen“, erklärt Kurt Mack von der schwäbischen Servichem GmbH. „Seit mehr als 40 Jahren wird mit FCS gearbeitet und publiziert. Und wenn eine Methode funktioniert, ist ein Forscher nur schwer davon zu überzeugen, auf eine andere Methode umzuschwenken.“

Das bestätigt auch Andrea Seiler von der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (Zebet): „Sogar hier haben die Forscher oft noch mit FCS gearbeitet, bis eine Diplomandin in mühsamer Kleinarbeit die Systeme umstellte.“ Und obwohl viele das moralische Problem kennen, verliert sich das Wissen um die grausame Gewinnung im Laboralltag. Hier muss ein Forscher lediglich das FCS aus dem Kühlschrank nehmen und zu seinen Zellen in der Plastikflasche pipettieren. „Er hat beim Arbeiten mit Zellkulturen ja nicht ständig das leidende Tier vor Augen“, so Seiler.

Dabei läge der Umstieg in seinem eigenen Interesse. Serumfreie Medien sind wesentlich sicherer. „Es gibt keinen Ärger mit Mikroben, die das Serum kontaminieren und unbrauchbar machen“, so Fischer. Deshalb forcieren Behörden serumfreies Forschen, das sie als „sauber“ ansehen, vor allem in der Humanmedizin. Und es stehen bereits zahlreiche serumfreie Systeme zur Verfügung. Etwa für die Produktion von monoklonalen Antikörpern, die eine Rolle in der Krebsdiagnostik spielen oder teilweise als Arzneimittel zugelassen sind.

Die Vermarktungsmethoden sind, laut René Fischer, heute wohl nicht mehr so zweifel- haft wie ehemals. „Weil auch große Firmen in den Markt eingestiegen sind und sie sich Panschereien und unzulässiges Preisdumping nicht leisten können.“

Trotzdem ist FCS teuer, der Preis wird durch die Anbieter diktiert. Die künstlichen Medien haben deshalb gegenüber dem Kälberserum auch einen finanziellen Vorteil, weil sie nicht limitiert sind.

Dass in Zukunft weniger Kälber für Zellkulturen sterben müssen, ist jedoch nicht zu erwarten. Denn durch die neue Chemikalienverordnung REACH könnten noch mehr Versuche an Tieren und Zellkulturen notwendig werden. Dann, wenn etwa 30.000 Chemikalien rückwirkend auf ihre Schädlichkeit zu prüfen sind.

Was in Europa stockt, scheint in den USA besser zu laufen. Dort prognostizierten Marktbeobachter der Business Communications Company letztes Jahr, dass sich der Umsatz mit Zellkulturen bis 2008 verdoppeln wird – und zwar weil die Biotech-Branche derzeit massiv auf serumfreie Medien umsteigt.