Drogen-Beratungsstelle "Stay Alive": Junkies ziehen um

Im "Stay Alive" auf St. Pauli darf Heroin unter Aufsicht gespritzt werden. Nun zieht die Beratungsstelle nach Altona: Ein Bürgerbegehren gegen den Umzug ist gescheitert.

Bald in Altona: das Stay Alive, noch auf St. Pauli. Bild: Ulrike Schmidt

Der Klient mit der Wartenummer 51 ist jetzt dran. Er krempelt die Ärmel hoch, wäscht und desinfiziert sich gründlich die Unterarme. Dann kramt er sein Heroin aus der blauen Arbeitskleidung und setzt sich an einen Tisch. Wie ein Feinmechaniker breitet er sein Werkzeug vor sich aus: Feuerzeug, Esslöffel, Spritze, Ascorbinsäure und Plastikampullen mit keimfreien Wasser. Er mischt das pulverisierte Heroin auf dem Löffel mit Wasser und Ascorbinsäure und kocht es mit dem Feuerzeug kurz auf. Durch einen kleinen Filter zieht er die Flüssigkeit in seine Spritze. Er hält kurz inne, pumpt durch Öffnen und Schließen der Faust Blut in die Venen seines linken Arms. Dann setzt der Mann mit der Wartenummer 51 die Spritze an und drückt das Heroin in seine Blutbahn.

Hartmut Janßen, 62, blickt ungerührt durch seine Brille. Der Sozialarbeiter kennt den Anblick von Drogenkonsumenten. Fünf Mal die Woche steht er für zwei Stunden im Drogenkonsumraum der Drogenberatungsstelle auf St. Pauli. In der Mitte der Davidstraße, zwischen Polizeiwache, Straßenprostitution und dem noblen Hotelkomplex Empire Riverside konsumieren Drogensüchtige unter Aufsicht ihre mitgebrachten Drogen.

Für Janßen haben die Klienten Namen, keine Nummern. Er muss zwar tagtäglich "massenhaft Statistik" führen, notiert Wartenummer, Geschlecht, Uhrzeit. Führt eine Strichliste auf dem Blatt für die Stoffstatistik: Heroin, Kokain, Crack, Cocktails oder Tabletten. Doch wenn einer seiner Klienten zusammenbricht, will er ihn mit Namen ansprechen. "Stay Alive" heißt der Ort, an dem er seit gut drei Jahren arbeitet.

Seit fünf Jahren sucht die Drogenberatungsstelle "Stay Alive" neue Räume.

Bereits 2006 will das "Stay Alive" nach Altona umziehen: in die Mörkenstraße 12 neben die dortige Polizeiwache. Doch nach Protesten von Anwohnern und dem Elternrat der Schule Königstraße macht die Vermieterin einen Rückzieher. "Alle dort im Stadtteil waren dagegen", sagt sie dem Hamburger Abendblatt.

Am 6. August 2010 stoppt die Bürgerinitiative "Unser Altona" den Umzug in das Gebäude einer früheren Gewürzmühle an der Virchowstraße. Er war von allen Fraktionen im Bezirk Altona beschlossen worden.

17. Januar 2011: Die Initiative "Unser Altona" verfehlt das Quorum für eine Bürgerentscheid - das "Stay Alive" kann umziehen.

Die Droge von Klient Nummer 51 hat ihren Weg bereits ins Gehirn gefunden, doch eine Wirkung ist für den Außenstehenden nicht offensichtlich. Das Hochgefühl durch die Droge ist kurz, Heroin sei vor allem ein Downer, sagt Janßen. Ein Gefühl von Gleichgültigkeit mache Alltagsprobleme vergessen. Klient Nummer 51 räumt routiniert seinen Abfall weg. Während er den Tisch mit Desinfektionsmittel abwischt, verabredet er mit Janßen für den Nachmittag ein Beratungsgespräch.

Janßen tippt auf ein Fußpedal, woraufhin rote Lettern eine Zahl weiter springen. Im Café leuchtet auf einer Wandtafel die Nummer 55 auf: der Nächste, bitte. Acht Klienten dürfen sich gleichzeitig im Konsumraum aufhalten: 45 Quadratmeter, bis auf Kopfhöhe beige gekachelt und mit sechs Stahltischen ausgestattet. Eine dicke Glaswand trennt einen Teil des Raumes ab, dahinter können die Klienten rauchen: das Heroin wird auf einer Alufolie erhitzt, der Dampf wird mit einem Röhrchen inhaliert. "Blechrauchen" heißt das im Szeneslang.

Funktional gesehen dient der Konsumraum allein dem sichereren Drogengebrauch. Neben der Ersten Hilfe im Notfall geben Sozialarbeiter wie Janßen Tipps zum "risikoärmeren Konsum". Janßen moralisiert nie, wenn er über die Gefahren des Konsums spricht. Er legt die Risiken dar, bietet Alternativen an. Das ist die emotionale Funktion des Konsumraums: Die Klienten kommen mit den Sozialarbeitern in Kontakt und bauen Vertrauen auf - die Grundlage für weitergehende, ausstiegs-orientierte Angebote: Das "Stay Alive" betreut auch Substituierte und vermittelt Therapien.

Etwa der Hälfte der Klienten sieht man die Sucht nicht an, sie sind gepflegt, ordentlich gekleidet und wirken gesund. Andere sehen so aus wie die Klientin mit der Wartenummer 59: mit schmerzverzerrtem Gesicht sucht die Frau an ihren offenen Beinen einen Flecken heiler Haut, wo sie die Spritze setzen könnte.

Die Leitung des "Stay Alive" steht im engen Kontakt mit der Davidwache. Die Zusammenarbeit ist für beide Seiten schwierig: Die Polizei muss Präsenz zeigen, um den Drogenhandel zu unterbinden, die Klienten müssen wissen, dass sie zur Beratungsstelle gelangen können, ohne kontrolliert zu werden. Die Zusammenarbeit klappe aber meist sehr gut, sagt Leiter Tobias Arnold. Auch die Polizei sehe die Vorteile: Durch den Konsumraum gebe es weniger offenen Drogengebrauch und der Spritzentausch im "Stay Alive" trage dazu bei, dass die Straßen, Parks und Spielplätze frei von benutzen Spritzen seien.

Knapp 75 Besucher kommen täglich ins "Stay Alive", die Räume in der Davidstraße werden zu klein. Seit fünf Jahren sucht das "Stay Alive" darum nach neuen Räumen, doch entweder machten die Vermieter einen Rückzieher oder die Anwohner wehrten sich gegen die Drogenhilfe - wie zuletzt in Altona, wo eine Bürgerinitiative die Planungen für drei Monate stoppte. Die Anwohner befürchteten die Entwicklung einer offenen Drogenszene: Eine "soziale Integration der Hilfsbedürftigen" sei nicht möglich, außerdem befinde sich der Standort Virchowstraße im Entwicklungsgebiet "familienfreundliches Quartier Altona-Altstadt".

Wie am Montag bekannt wurde, ist die Initiative gescheitert: 5.615 gültige Unterschriften wären für einen Bürgerentscheid nötig gewesen, 4.412 kamen zusammen. "Das ist eine gute Nachricht", sagt "Stay Alive"-Chef Arnold. Die Baugenehmigung durch den Bezirk Altona sei mündlich zugesagt, der Umzug ist im Sommer geplant.

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