Die Trauer der Töchter

Ein Koffer voller Frauenwäsche als Verlockung zur Befreiung: Die türkischen Filme „Melegin Düsüsü“ im Forum und „Bulutlari Beklerken“ im Panorama verbindet die Suche nach einem Aufbruch

VON DANIEL BAX

Ein Wunschbaum ist der Ort, an den man seine innersten Wünsche und tiefsten Hoffnungen trägt. Kleine Tücher oder Stoffreste, an die Äste gebunden, symbolisieren die geheimen Sehnsüchte derer, die sie angebracht haben. Der Brauch aus vorislamischer Zeit ist in der Türkei bis heute weit verbreitet, und mit diesem Motiv beginnt „Melegin Düsüsü“, der „Fall des Engels“. Von einem solchen Wunschbaum aus versucht das Mädchen Zeynep verzweifelt, einen Goldfaden zu spannen zu einem anderen heiligen Ort in der Nähe, vielleicht einem Heiligengrab. Doch gelingt ihr nicht: Immer wieder reißt der Faden, versucht sie es aufs Neue, einem weiblichen Sisyphos gleich.

So wie dieser Faden reißt auch der Erzählstrang von „Melegin Düsüsü“ gelegentlich ab und beginnt an anderer Stelle von vorn. In einer Szene spielt sich die Geschichte sogar rückwärts ab. Dabei passiert zunächst einmal gar nicht viel: In langen Einstellungen verfolgt „Melegin Düsüsü“ den ereignislosen Alltag der jungen Zeynep, die in einem Hotel die Zimmer reinigt, und zeigt dabei die freudlosen Seiten der Millionenstadt Istanbul. Zeyneps einziger persönlicher Kontakt im Hotel ist ein Page, jünger noch als sie: Er begleitet sie nach der Arbeit zum Bahnhof und schwärmt leise für sie. Doch als er sich mit ihr verabreden will, gibt sie seinen schüchternen Avancen eine schroffe Abfuhr.

Zu Hause erwartet sie ein mürrischer Vater, der sie nicht nur herumschikaniert, sondern auch, wie bald deutlich wird, sexuell missbraucht. In quälend langen Szenen wird der Zuschauer Zeuge der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und der erdrückenden Atmosphäre der Angst und des leisen häuslichen Terrors. Als die junge Zeynep ihren Vater gegen Ende des Films völlig überraschend im Affekt erschlägt, wirkt das wie eine Erlösung: Angesichts des plötzlichen Blutbads im Badezimmer muss man fast lachen, als sei es eine Szene von Tarrantino.

Auslöser für die langsame Emanzipation der Hauptfigur, die in ihren gewaltsamen Befreiungsschlag mündet, ist ein Koffer voller eleganter Frauenwäsche, der ihr in die Hände fällt. Er stammt von einer Frau aus der Oberschicht, die bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist. In einer kunstvoll parallel gesetzten Geschichte malt „Melegin Düsügü“ die Hintergründe aus: Im Streit hatte sich die Frau von ihrem Freund getrennt, weil der sie mit der hübschen Nachbarin betrog. Nach der Beerdigung versucht der Mann, mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden. Auf den Rat einer Verwandten hin verschenkt er kurzerhand den Koffer, mit dem seine Frau vor ihrem Unfalltod aus dem Haus gestürmt war.

In einer völlig anderen Zeit, an einem anderen Ort spielt „Bulutlari Beklerken“ („Warten auf die Wolken“). Auch hier geht es um ein dunkles Familiengeheimnis. Der neue Film der Regisseurin Yesim Ustaoglu, die mit „Reise zur Sonne“ 1999 bereits einmal im Wettbewerb der Berlinale vertreten war und dort einen Preis gewann, greift wieder ein in der Türkei gerne verdrängtes Thema auf: Ging es damals um den Kurdenkonflikt in der unmittelbaren Gegenwart, so bildet nun die Vertreibung der pontischen Griechen in Folge des Ersten Weltkriegs, aus dem die moderne Republik Türkei erst hervorging, die historische Folie. In den Dörfern an der Schwarzmeerküste, aus denen die ursprünglichen Bewohner vertrieben worden waren, siedelten später Emigranten vom anderen Ende der Türkei aus Mersin an der Mittelmeerküste.

Nun sind die Sechzigerjahre angebrochen, es gibt eine Volkszählung, und die Schüler plärren auf dem Schulhof nationalistische Parolen, als die ältere Schwester der betagten Ayse stirbt. Der kleine Junge Mehmet hatte die beiden alten Damen gerne besucht. Nun notiert er verwirrt, wie sich die alte Ayse merkwürdig zu benehmen beginnt. Als das ganze Dorf für eine Hochzeit ins nebelverhangene Hochland zieht, barrikadiert sie sich dort in einer Holzhütte und will niemanden mehr sprechen. Erst als im Dorf ein mysteriöser Grieche auftaucht, der bärtige Tanassis, der nach Russland geflüchtet war, öffnet sich Ayse wieder.

So erfährt der Zuschauer, dass Ayse, als Kind griechischer Flüchtlinge zurückgelassen und von einer muslimischen Familie adoptiert, mit ursprünglichem Namen Eleni hieß. In recht konventionellen Bildern erzählt „Bulutlari Beklerken“ von der spät erwachten Sehnsucht nach innerer Heimkehr oder auch historischer Wahrheit. Von Tanassis über einen möglichen Bruder in Saloniki informiert, macht sie sich auf die Reise nach Griechenland. Doch die Begegnung bringt ihr nicht unbedingt das, was sie sich erhofft hat. Zwei Frauen brechen auf und lassen ihr altes Leben hinter sich. Ohne auf Effekte zu setzen, rühren beide Filme an schweren Themen. Doch während „Bulutlari Beklerken“ etwas betulich wirkt, verstört „Melegin Düsüsü“ auch durch die ungewöhnliche Form.

„Bulutlari Beklerken“: 11. 2., 22 Uhr, Zoo Palast 1; 12. 2., 13.30 CinemaxX 7; 15. 2., 14.30, International. „Melegin Düsüsü“ (Forum): 17. 2. 19 Uhr, Delphi; 18. 2.,10 Uhr, CinemaxX 3; 19. 2., 22 Uhr, CineStar 8; 20. 2., 20 Uhr, Arsenal