Staat ohne Armee

INNERER FRIEDEN Vor 60 Jahren schaffte Costa Rica seine Armee ab. Seitdem lebt es wesentlich besser als seine Nachbarländer. Der Staat investierte in Gesundheits- und Bildungswesen und setzte eine Agrarreform durch

Da das Militär abgeschafft war, konnte eine sozialdemokratische Reformpolitik umgesetzt werden

VON BERT HOFFMANN

Als Mitte der 80er-Jahre eine Schweizer Bürgerinitiative Unterschriften sammelte, um die Armee abzuschaffen, wurde sie als utopisch belächelt. Schön, schön, die Idee, aber leider völlig realitätsfremd. Militär gehört zu einem Land wie Fahne und Fußballmannschaft. Ein Land ohne Armee – wo gibt’s denn so was?

Eine Antwort gibt es: In Zentralamerika, seit 60 Jahren. Und es lebt sich dort ganz gut ohne Armee. Costa Rica, ein 4-Millionen-Einwohner-Staat auf der zentralamerikanischen Landbrücke, schaffte 1949 die Armee per Verfassung ab. Vorangegangen waren umstrittene Wahlen, die zu einem Bürgerkrieg führten. Doch anders als sonst üblich baute der Sieger nun nicht seine siegreichen Verbände zu einer neuen, ihm ergebenen Armee aus. Vielmehr setzte die provisorische Regierung unter José Figueres ihre Macht ein, um innerhalb von 18 Monaten die Strukturen des Landes von Grund auf zu ändern. Nicht Revolution und Sozialismus waren das Ziel, sondern Demokratie und ein sozialdemokratischer Entwicklungsweg. In die neue Verfassung wurde ein Paragraf eingefügt, der eine stehende Armee verbot. Dieser ist bis heute in Kraft.

In der Folge entwickelte sich Costa Rica in eine gänzlich andere Richtung als der Rest der Region. In den Nachrichten aus Zentralamerika ging es über Jahrzehnte hinweg vor allem um Militärdiktaturen wie die des Somoza-Clans in Nicaragua oder blutige Bürgerkriege wie in El Salvador, um militärische Repression gegen die indigene Bevölkerung wie in Guatemala oder um den Triumph der bewaffneten sandinistischen Revolution in Nicaragua. Überall in der Region war das Militär die ultimative Anlaufstelle für die Gegner sozialer Reformen.

In Costa Rica hingegen konnte eine sozialdemokratische Reformpolitik umgesetzt werden. So fand schrittweise eine Agrarreform statt, das Bankensystem wurde nationalisiert, Genossenschaften wurden gegründet, Kleinbauern vor den Preisschwankungen des Kaffeeweltmarkts geschützt, und erstmals mussten die Bananenmultis Steuern zahlen. Der Staat baute das Gesundheits- und das Bildungssystem aus, und die Einkommensverteilung war weit weniger ungerecht als in den meisten anderen Ländern der Dritten Welt. Regelmäßig alle vier Jahre fanden friedliche Wahlen statt, eine Regierung löste die andere ab, aber sonst änderte sich wenig. Costa Rica war langweilig: Es wirkte nicht faszinierend auf die Soli-Bewegung, es tauchte kaum in den Schlagzeilen auf – es sei denn als Vermittler in den Konflikten seiner Nachbarn. 1983 verkündete das Land seine permanente Neutralität. 1987 erhielt Präsident Óscar Arias Sánchez sogar den Friedensnobelpreis. Im Grunde galt die Auszeichnung weniger seiner Person als seinem Land.

In der internationalen Wahrnehmung erhielt Costa Rica den Beinamen „die Schweiz Zentralamerikas“. Natürlich wird es dabei gern idealisiert. Kritiker verweisen zu Recht immer wieder auf die Aufrüstung der Polizeikräfte. Dennoch sind diese auch 60 Jahre nach der Abschaffung der Armee nur Polizeikräfte und keineswegs eine Armee unter anderem Namen (wie das etwa bei Japans „Selbstverteidigungskräften“ der Fall ist). Es gibt kein Militär als Staat im Staate, keinen Korpsgeist der Uniformierten, keine Pensionskassen für Militärs, keine unantastbaren Wirtschaftsunternehmen, kein Säbelrasseln aus den Kasernen.

Skeptiker wenden gern ein, dass das „Modell Costa Rica“ ohne Rückendeckung durch die USA in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Aber viele andere Länder haben sehr viel weniger sozialverträgliche Entwicklungen finanziert, trotz teilweise größerer Unterstützung durch Washington.

Es stimmt, dass die „Schweiz Zentralamerikas“ seit den 80er-Jahren eine Reihe zentraler Bausteine ihrer sozialdemokratischen Grundarchitektur der Marktliberalisierung angepasst hat. Korruption hat die politische Klasse diskreditiert, soziale Spannungen haben zugenommen. Doch wirtschaftlich und sozial geht es Costa Rica im Vergleich zu den Nachbarländern Nicaragua, Honduras oder El Salvador erheblich besser. Auch politisch ist das Land immer noch ein Sonderfall. Als im Jahr 2000 starke Proteste gegen die Privatisierung von Strom- und Telekom-Unternehmen die Nation lahmlegten, hatte die Regierung keine andere Wahl, als mit den sozialen Bewegungen zu verhandeln – schon deshalb, weil es keine Armee gab, die die Straßen mit Waffengewalt geräumt hätte.

In der anderen Schweiz, der in Europa, kam es im November 1989 übrigens zu einer Volksabstimmung, bei der sich mehr als ein Drittel der Eidgenossen für die Abschaffung der Armee aussprach. Das reichte nicht ganz aus, war aber ein sensationeller Achtungserfolg. Ein Vorbild dafür gibt es schon.