Eine Behandlung ohne jegliches Gespür

Im Abschiebeknast erlitt ein Flüchtling einen Infarkt. Wärter und Ärztin vertrösteten ihn. Richter behandelt den Flüchtling wie einen Angeklagten

von Mareke Aden

Diese Geschichte beginnt mit einem Hähnchen, das eine Bekannte dem serbischen Kosovaren Zenun Ruhani vor drei Jahren ins Abschiebegefängnis Grünau bringt. Ruhani teilt die Speise mit fünf Mithäftlingen. Aber anders als diesen bekommt sie ihm offenbar nicht. Um 21 Uhr fangen seine Schmerzen an und alles, was danach passierte, beschäftigt seither Ärzte und Juristen. Gestern haben sie sich im Moabiter Strafgericht versammelt, neun Ärzte und vier Juristen – und Ruhani natürlich.

Denn in jener Nacht bat Ruhani um Behandlung. Man reichte ihm zweimal ein Magenmittel in die Zelle, das er immer sofort wieder erbrach. Vor Gericht berichtet Ruhani, dass er um Verlegung in das Krankenhaus eines anderen Gefängnisses bat, damit die Wärter nicht glaubten, dass er nur simuliere. Er sagt auch, dass er vertröstet wurde, bis zum Morgen. Aus Angst rief er die 110 und bat die Polizei um Hilfe. Die erkundigte sich offenbar im Abschiebegefängnis, was da los sei. Statt die Sache jetzt ernster zu nehmen, drohten ihm die Wärter nun mit einer Anzeige, falls er noch mal die Polizei anrufe, so steht es in seiner Anzeige. Auch als er am nächsten Tag von der Ärztin Renate R. behandelt wird, bekommt er nur Magenmittel. Erst am Abend bringt man Ruhani ins Krankenhaus. Dort hat er nach einer ruhigen Nacht wieder Symptome, die eine Klinikärztin als Herzinfarkt deutet, der 12 bis 24 Stunden zurückliegt. Ohne die Menschenrechtsbeauftragte der Ärztekammer wäre der Fall wohl nie vor Gericht gelandet. Nun aber muss sich Renate R. wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Sie hätte den Herzinfarkt erkennen müssen, sagt die Staatsanwaltschaft.

Offenbar kommt es in Gerichtssälen nicht oft vor, dass auf der Anklagebank eine Ärztin sitzt, die jeden Satz wohlfeil formuliert, und der Belastungszeuge ein Roma ist, der gebrochen deutsch spricht. Der Richter jedenfalls plauscht freundlich mit der Angeklagten und nimmt dann den Betroffenen ins Kreuzverhör. „Es muss ja so gewesen sein, dass die Ärztin den Blutdruck gemessen hat. Oder wie erklären Sie sich sonst, dass hier im Patientenblatt die Werte stehen, Herr Ruhani?“, fragt er ihn immer wieder triumphierend. Dabei hat natürlich nicht Ruhani, sondern die Ärztin die Akte geführt. Aber der Richter scheint selbst seine einfache Antwort – „Weiß ich nicht“ – sofort gegen ihn auszulegen. Dann wirft der Richter Ruhani vor, dass er nichts von Schweißausbrüchen und Atemnot erzählt habe.

Es wird unruhig im Saal. Auf den Zuschauerbänken sitzen Mediziner, Menschenrechtler der Ärztekammer. Elfriede Krutsch ist eine von ihnen. „Als ob ein Patient verpflichtet wäre zu sagen, was er hat“, mokiert sie sich in der Verhandlungspause. „Am liebsten würde ich dazwischen schreien, wenn ich höre, was der Richter sagt.“ Das geht nicht. Der Richter droht schon Ruhanis Frau und einer Bekannten 500 Euro Ordnungsgeld und Haft an, als die beiden kurz flüstern.

Es ist deswegen auch nicht verwunderlich, dass der Richter nicht beeindruckt ist von der Aussage des Gefängnispfarrers, er habe beim Anblick des vor Schmerzen gekrümmten und zitternden Zenun Ruhani sofort an einen Herzinfarkt gedacht, weil „man so etwas ja schon mal in medizinischen Fernsehsendungen gesehen hat“. Und dass die Klinikärztin aussagt, sie hätte ein EKG durchgeführt, wenn Ruhani zu ihr gekommen wäre. Es ist deswegen auch nicht erstaunlich, dass sich die Anwältin von Ruhani auf einen Deal einlässt: Das Verfahren gegen die Ärztin wird ohne Urteil eingestellt. Und Ruhani darf auch keinen Schadensersatz und kein Schmerzensgeld mehr von ihr verlangen, wenn sie ihm 1.000 Euro bezahlt. Dem Richter erspart das einen weiteren Verhandlungstag und eine Urteilsbegründung.

Zufrieden ist niemand damit: Die selbst schwer kranke angeklagte Ärztin findet, dass „die Wahrheitsfindung auf der Strecke geblieben ist“. Zenun Ruhani und die Menschenrechtler von der Ärztekammer hätten gern auch die Wärter noch als Zeugen gehört. Es geht ihnen nicht nur um die Fehldiagnose einer Ärztin, sondern dass das ganze System im Abschiebeknast mal vor Gericht und an die Öffentlichkeit kommt. „Wir wollen die Strukturen im Abschiebegefängnis zeigen, wann man zum Beispiel mit einem Arzt sprechen kann. Und: Wir wollen eine andere Haltung“, sagt Krutsch. In den Verhandlungspausen ist auch klar geworden, dass Öffentlichkeit das Letzte ist, was die Mediziner des Abschiebeknastes wollen. Eine Kollegin schirmt die redewillige Angeklagte von der Öffentlichkeit ab. Fragen sind nicht erwünscht.