Gefängnis der Einsamkeit

Man kann diese Geschichte auch rückwärts laufen lassen: Niels Fredrik Dahls genauso schonungslos trauriger wie träumerischer Roman „Auf dem Weg zu einem Freund“

VON KATHARINA GRANZIN

Mit einer kleinen literarischen Irritation fängt dieser Roman an. Ein Foto in einem Bildband zeigt einen erschöpften Elefanten, der am 15. Juli 2001 den Verkehr auf Oslos Straßen blockiert. Natürlich erregt so ein riesiges Tier Aufsehen, wenn es frei herumläuft – oder auch, wenn es am Anfang eines Romans auftaucht. Was soll der Elefant hier? Wer aber zunächst den Autor verdächtigen sollte, mit diesem Einstieg plump Leseraufmerksamkeit zu heischen, liegt falsch. Es ist sein Erzähler, der, nach mehr als dreißig Jahren des Schweigens, diesen Elefanten braucht, um überhaupt zum Erzähler werden zu können. Selten zuvor hat ein Elefant in der Literatur mehr Sinn gehabt.

„Auf dem Weg zu einem Freund“ hat einen Ich- und einen (der Begriff drängt sich auf) Er-Erzähler. Beide sind dieselbe Person, aber, wie der Erzähler sagt: „Er ist ich, aber ich bin nicht er.“ Das Erzählen in der dritten Person verschafft ihm einen emotionalen Sicherheitsabstand. Sein Name ist Vilgot. Als Er-Erzähler ist er elf Jahre alt. Als Ich-Erzähler ist Vilgot erwachsen, ein Mann in besten Jahren. Er berichtet vom Leben des Vierzigjährigen mit einem Elefanten. Dieser sei zurückgeblieben, als der russische Zirkus, zu dem das Tier gehörte, zurückfuhr in die Heimat. Nun füttert er es mit Brot und verbindet seine Schrunden mit Damasttischdecken. Der Umgang mit dem Elefanten in seiner Scheune löst widerstreitende Empfindungen in dem Mann aus: Angst, Sehnsucht, Macht- und zugleich Ohnmachtsgefühle.

Was Vilgot bisher nie erzählen konnte, spielt sich an einem Tag im Leben des Elfjährigen ab, als er „auf dem Weg zu einem Freund“ ist. Der Titel des Buches ist wie eine Beschwörung, die zahllose Male wiederholt wird. Wahrer wird sie dadurch nicht. Nur zu gern würde der Junge einen Freund besuchen, doch ist er gerade überall unerwünscht. Niemand lässt ihn ein, und zu Hause möchte er nicht sein, da er es dort, gefangen zwischen der Gleichgültigkeit des Vaters und der stets leidenden Mutter, einfach nicht aushält. Lange bevor man das Schreckliche erfährt, das an jenem Tag passierte, versteht man schon, wie es dazu kommen konnte. Unablässig, unbewusst ist Vilgot auf der Suche nach menschlicher Wärme. Die mangelnde Geborgenheit, die ihn immer wieder aus dem Haus treibt, setzt sich draußen in der gleichförmigen Neubausiedlung fort. So sucht er sich Orte, an denen er sich sicher fühlt, die Birke am kleinen Teich, an der er lehnt und sich selbst umarmt, oder die dunkle Ecke im Fahrradkeller, wo er eines Tages den Alkoholiker von gegenüber davor bewahrt, an seiner eigenen Kotze zu ersticken. Andere Einsame kreuzen seinen Weg. Der Nachbar von oben, der wie Vilgot oft allein herumstreunt. Landwirt Lange, der allein auf dem letzten Bauernhof der Gegend lebt. Die Kinder haben Angst vor diesem Mann, um den sich dunkle Gerüchte ranken, doch Vilgot wird nach und nach sein Freund.

Schonungslos traurig ist dieser Roman, doch gleichzeitig auch seltsam trostreich und träumerisch schön. Hellsichtig, wie mit einem hochempfindlichen Sensorium führt er in die Psyche eines sensiblen heranwachsenden Kindes, das gerade begonnen hat, sich mit dem Gefühl der existenziellen Einsamkeit herumzuschlagen. Es spürt sie nicht nur am eigenen Leib, sondern auch an den Erwachsenen, die sich mit ihrem Leiden am Dasein längst arrangiert haben und nun voreinander Verstecken spielen, um weiteren Verletzungen vorzubeugen. Das gilt für Vilgots Eltern, die sich völlig von der Außenwelt isolieren, für den Nachbarn, der heimlich im Keller säuft, für den Kunstlehrer, der seine wilde, verzweifelte Kunst im Atelier versteckt, zu dem niemand Zutritt erhält. Allein Vilgots neuer Freund, der „Graf“, lässt den Jungen scheinbar teilhaben an der großen Verwundung seines Lebens, indem er ihm immer wieder denselben Schmalfilm vorspielt, auf dem seine verschwundene Geliebte zu sehen ist.

Dass es möglich ist, sich aus dem Gefängnis des Leidens zu befreien, indem man „den Film rückwärts laufen lässt“, erkennt nicht nur der Graf sehr spät, sondern auch Vilgot selbst, der erst als Erwachsener, mit dem Leiden des Elefanten konfrontiert, diese Möglichkeit auch für sich selbst entdeckt. Zart deutet der Roman an, dass der Elefant mit Namen Batir möglicherweise nicht wirklich in Vilgots Scheune steht. Doch die Art von Batirs Existenz ist nicht relevant, wenn er nur Vilgot hilft, endlich seine Geschichte zu erzählen. So ist dieses außergewöhnlich berührende – und sehr schön übersetzte – Buch ganz nebenbei auch eine poetische Studie über die heilende Kraft der Fantasie. Die Geschichte, die Vilgot erzählen muss, wird dadurch nicht erträglicher, doch sie wird möglich. Man kann sie auch rückwärts laufen lassen. Und vielleicht irgendwann dem Gefängnis der Einsamkeit entkommen.

Niels Fredrik Dahl: „Auf dem Weg zu einem Freund“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 224 Seiten, 17,90 Euro