Wechsel der Perspektive

Der Kölner Boris Grundl ist seit vielen Jahren querschnittgelähmt. Als Seminarleiter für Einzelcoaching und als Star im Rollstuhl-Rugby hat der ehemalige Tennis-Profi neuen Ehrgeiz entwickelt

„Vor dem Unfall war es mir wichtig, meine Ziele zu erreichen. Heute liebe ich es zu sehen, wie sich Menschen entwickeln“

AUS KÖLNVERENA WEISSE

„Der entscheidende Punkt, wo es leicht fällt, kommt nie. Es ist immer ein Kampf.“ Boris Grundl hievt die Einzelteile seines Rollstuhls nacheinander über sich und legt sie neben die Fahrertür auf den Asphalt. Vier Handgriffe reichen und der Stuhl steht einsteigebereit vor seinem dunkelgrünen Audi auf dem Parkplatz. Ort: Sporthalle am Reitweg in Köln-Deutz. Er möchte zum Training des RSC Köln. Rollstuhl-Rugby ist seine Sportart.

Seit 14 Jahren sitzt der 39-Jährige im Rollstuhl. Schuld war ein Sportunfall – beim Klippenspringen in Mexiko hat er sich den siebten Halswirbel gebrochen. Seitdem ist der ehemalige Profi-Tennisspieler querschnittgelähmt, 90 Prozent seiner Muskulatur sind nicht mehr einsetzbar. Nur Bereiche am Oberkörper und Teilbereiche der Hände funktionieren.

Boris Grundl hievt sich vom Fahrersitz in seinen Rollstuhl, zieht die blaue Sporttasche auf seinen Schoß und fährt zum Kofferraum. Er ist kontrolliert und diszipliniert, so, als ob er diesen Ablauf im Kindesalter gelernt hätte. Grundl öffnet den Kofferraum und zieht seinen Sportrollstuhl heraus. Ein Monstrum, das wegen der Aluminiumverkleidung, dem Bumper, der Schutz vor Angriffen der Gegner bietet, wie ein kleiner Autoscooter aussieht. Beim Rollstuhl-Rugby – dem einzigen Mannschaftssport für Tetraplegiker, Querschnittgelähmte, bei denen Arme und Beine gelähmt sind – gibt es offensive und defensive Stühle, je nachdem, wie viel Muskulatur der Spieler einsetzen kann.

Mit der einen Hand schiebt Boris Grundl sein Gefährt an, mit der anderen drückt er den Sport-rolly vorwärts in Richtung Halle, mit einem Ruck geht es die kleine Rampe an der Eingangstüre hoch. Einige seiner Teamkollegen sind schon da, grüßen herüber, als sie ihn sehen. Er rollt durch die Halle bis zum Geräteraum, stellt seine Tasche neben der Bank ab.

Boris Grundl hat Karriere gemacht – in Sport und Beruf. Angetrieben durch unbedingten Willen, gepaart mit Bis,s schaffte er es innerhalb kürzester Zeit nach oben. Bundesliga, Nationalmannschaft, Vorsitzender von Rollstuhl Rugby-Deutschland, bester Spieler Europas. „Ich war immer der Leitwolf.“ Der größte Erfolg: siebter Platz bei den Olympischen Spielen in Sydney. Mittlerweile ist der Leitwolf ruhiger geworden. In der Bundesliga spielt er noch, aus der Nationalmannschaft hat Grundl sich zurückgezogen. „Ich hatte keine Vision mehr für die Olympischen Spiele in Athen. Das musste ich mir eingestehen.“

Auch beruflich lief alles glatt: Nach dem Job als Marketingvertriebsdirektor, „irgendwann war es nicht mehr meine Welt“, machte er sein Hobby zum Beruf: Seminare geben zum Thema Menschenführung, Einzelcoachings für jedermann. Seine Berufung? „Es ist meine Vision, das Thema Führung einer breiten Masse näher zu bringen. Jeder führt im Alltag. Die wichtigsten drei Prinzipien: sich selbst führen, sich verändern, sich führen lassen können. „Vor dem Unfall war es mir wichtig, meine Ziele zu erreichen. Heute liebe ich es zu sehen, wie sich Menschen entwickeln“, sagt Boris Grundl, der früher als Einzelkämpfer durch die Welt ging und sich eingestehen musste, dass er nur im Team stark ist. Und dieses Team hat der Vater von Tochter Vivian bei seinen Rollstuhl-Rugby-Jungs, den Cologne Alligators, gefunden.

Er zieht seinen Pulli über den Kopf, darunter trägt er ein schwarzes Muskel-Shirt, zwei große schwarze Tattoos, japanische Schriftzeichen, zieren seine muskulösen Oberarme. „Illusion der Wahrnehmung“ heißt das auf dem rechten, „Bedeutung der großen Kraft“ nennt er das auf dem linken Oberarm. Familie und Meditation geben dem Spitzensportler Kraft. „Am Anfang konnte meine Tochter nur schwer akzeptieren, dass ich im Rollstuhl sitze. Mittlerweile ist sie sehr stolz auf ihren Vater.“ Er taped Füße und Beine, zurrt den Brustgurt fest, zwängt sich in die Glaserhandschuhe, damit der Grip an Rädern und Ball später im Training besser ist, zuletzt streift er Ledermanschetten über beide Handgelenke. „Ich muss mich so verpacken, damit ich mich bei den Rollstuhl-Kontakten nicht verdrehe. Es muss schon Spaß machen, wenn man sich so etwas antut.“ Er rollt in die Halle. Heute wird gespielt. Seine drei Teamkollegen fahren auf ihn zu. Sie streifen sich rote Hemdchen über und besprechen dabei die entscheidenden taktischen Spielzüge.

„Kriegt ihr beiden Jörg? Wenn Jörg einwirft, muss einer auf Benny, ich spiele dann eins gegen eins“, sagt der ehemalige Kapitän der Alligators. Die Kollegen nicken. Keiner sagt einen Ton. Rollstuhl-Rugby wird mit einem Volleyball gespielt, Körperkontakt ist verboten, fast jeder Stuhl-Kontakt erlaubt. Es darf gedrückt, gerammt und geblockt werden, um dem Teamkollegen den Weg zur Torlinie freizumachen. Jeder Spieler übernimmt eine andere Rolle, da er je nach Grad seiner Behinderung anhand eines Punktesystems klassifiziert wird – von 0,5 bis 3,5 Punkte. Ein 0,5 Punkte-Spieler hat die größten Funktionseinschränkungen in Händen und Armen, wenig Trizeps und kaum Fingerfunktion, ein 3,5-Punkte-Athlet spielt mit fast voller Trizeps- und Fingerfunktion.

Die Rothemden verteilen sich in ihrer Hälfte, das Team in Gelb auf der anderen Seite. Die Schiedsrichterin pfeift die Partie an. Boris Grundl gibt von Beginn an Vollgas. Der 39-Jährige kämpft um jeden Ball, schnell dreht er sich mit seinem Stuhl um die eigene Achse, hat er den Ball erst einmal sicher auf seinem Schoß, schirmt er ihn gekonnt ab, düst in Richtung Torlinie – kaum ein Gegner hat gegen den 2-Punkte-Spieler eine Chance. Er ist immer in Bewegung, wartet auf seine Chance, dem Gegner den Ball abzujagen, hat dabei die Situation im Blick. Ab und zu gerät der Profi mit Mitspielern, Gegnern und Schiedsrichtern aneinander.

Erschöpft lehnt sich der durchtrainierte Spitzensportler, der sieben Mal pro Woche „joggt“ und sich zwei Mal im Kraftraum an Geräten schindet, nach dem Training in seinem Rollstuhl zurück. Er atmet tief durch und ringt nach Luft. „Es ist körperlich so anstrengend, dass du alles rausholen musst, was da ist. Es ist eine psychische und physische Herausforderung.“ Boris Grundl ist ein Kämpfer und er wird jeden Tag weiter kämpfen, denn „der Weg, den ich gehe, ist manchmal ein einsamer“.