„Alle wollen Opfer sein“

Die israelische Linke liegt darnieder, die Hoffnung auf Frieden ist vergangen. Die israelische Gesellschaft ist fragmentiert und nicht in der Lage, die Besatzung zu beenden, sagt der Historiker Tom Segev

■ ist 65 Jahre alt, ist Historiker und Kolumnist der liberalen Tageszeitung Ha’aretz. Seine Eltern flohen 1935 aus Nazideutschland, sein Vater starb im Unabhängigkeitskrieg 1948. Mit seinem Buch „Die siebte Million“ (1993), in dem er sich mit der Aufarbeitung der Schoah in Israel auseinandersetzte, sorgte er für heftige Kontroversen. Segev ist einer der bekanntesten Vertreter der „neuen Historiker“, die über die Auseinandersetzung mit Israels Gründungsgeschichte an einem „postzionistischen“ Entwurf arbeiten. Auf Deutsch erschien von Segev zuletzt „1967 – Israels zweite Geburt“.

INTERVIEW STEFAN REINECKE
UND KATJA MAURER

taz: Herr Segev, Israel ist nach rechts gerückt. Warum?

Tom Segev: Die meisten Israelis glauben nicht mehr an den Frieden und nicht mehr an die Politiker, die sie für korrupt halten.

Ist das neu?

Ja, vor zehn Jahren war das noch anders. Das Explosive heute ist die Mischung. Denn zur Friedensskepsis und Politikverachtung kommt noch die Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise. Das sind drei klassischen Bedingungen für Erfolge von rechten Parteien, wie Liebermans „Unser Haus Israel“. Diese Partei schürt Fremdenhass. Und zwar nicht nur gegen Palästinenser, sondern auch gegen israelische Staatsbürger. Hass auf Araber ist in Israel legitim und gesellschaftsfähig geworden.

Gibt es dafür noch mehr Indizien als den Erfolg von Lieberman?

Ja, man merkt es überall. Die Leute reden so, nicht nur auf Fußballplätzen. Es wird auch akzeptiert, wenn eine Firma nur jüdische Handwerker anstellt und keine arabischen Israelis. Viele Straßenschilder sind in Israel dreisprachig: Hebräisch, Russisch und Arabisch. Das Arabische ist sehr oft schwarz übermalt. Früher haben die Stadtverwaltungen diese Schmierereien entfernt. Irgendwann haben sie damit aufgehört.

Die israelische Gesellschaft wird also rassistischer. Warum?

Vielleicht weil sie komplizierter und spannungsreicher geworden ist. Früher gab es die Kluft zwischen Religiösen und Säkularen und die auch soziale Kluft zwischen den reicheren Aschkenasim und Sephardim, also zwischen den aus Europa stammenden Juden und den aus arabischen und nordafrikanischen Ländern stammenden.

Was ist heute anders?

Heute gibt es zudem die Russen, die die Äthiopier nicht leiden können und umgekehrt. Ich habe einen äthiopischen Adoptivsohn. Wenn seine Freunde ihn ärgern wollen, nennen sie ihn Boris. Es gibt viele Klubs in Tel Aviv, in die Äthiopier nicht reingelassen werden. Eigentlich wird die israelische Gesellschaft immer fragmentierter.

Wenn die Gesellschaft stärker in Milieus zerfällt – was hält sie dann zusammen?

Die gewachsene Aufspaltung in Milieus ist das eine. Das andere ist, dass durchaus eine solide israelische Identität existiert. Mein Sohn fühlt sich als Israeli und will auch nicht anderswo wohnen. Auch nicht in den USA oder Kanada, was er als junger, gut ausgebildeter Mann durchaus könnte. Er will hier bleiben, obwohl er nicht an Frieden glaubt. Ich habe ihn gefragt: Warum? Er hat gesagt: Weil ich nicht noch mal Emigrant sein will. Das ist, sehr präzise auf den Punkt gebracht, die Idee des Zionismus.

Sie haben als Historiker an der Entzauberung der zionistischen Gründungsmythen gearbeitet. In den Neunzigerjahren hofften viele, dass das postzionistische, über sich selbst aufgeklärte Israel freundlicher und friedlicher werden würde. Warum ist aus dem postzionistischen Traum nichts geworden?

Das war nicht mein Traum. Ich habe Postzionismus nie als politisches Programm verstanden, sondern immer als historische Beschreibung der Situation, dass der Zionismus sein Ziel erreicht hatte. Die meisten Juden lebten in Israel, der zionistische Staat war, so weit man es beurteilen konnte und kann, eine Erfolgsgeschichte. Das habe ich unter Postzionismus verstanden.

Die Vernichtungsängste in Israel sind echt. Wer das nicht versteht, wie es leider noch immer viele Araber tun, wird Israel nie verstehen

TOM SEGEV

Trotzdem: Warum ist aus der Hoffnung, dass Israel damit offener würde, nichts geworden?

Weil zur gleichen Zeit der Friedensprozess von Oslo gescheitert ist. Seitdem ist das Vertrauen, dass Frieden möglich ist, verschwunden. Die meisten Israelis denken: Wenn es so bleibt, wie es ist, ist es gut. Wenn es sich ändert, wird es schlimmer. Man hat sich mit dem arrangiert, wie es ist. Dazu passt auch, dass die Gleichgültigkeit der Israelis gegenüber dem, was in den besetzten Gebieten geschieht, enorm gewachsen ist. Es interessiert eigentlich niemanden mehr.

Braucht Israel Druck von außen, von der EU und den USA, damit es sich überhaupt bewegt?

Es gibt wenig Druck von der EU. Als der Gazakrieg gerade vorbei war, haben Angela Merkel und Nicolas Sarkozy Zipi Livni in Jerusalem demonstrativ umarmt. In Israel meinen viele, Europa sei furchtbar kritisch uns gegenüber. Das ist falsch. Die EU ist sehr freundlich zu Israel. Was die USA anbetrifft, muss man abwarten. Vielleicht wird Obama Druck machen; vielleicht glaubt er, dass Friedensinitativen sinnlos sind.

Glauben Sie, dass ein stabiler Frieden möglich ist?

Nein, nicht mehr so wie früher. Ich kann die resignierte Haltung, dass es hoffentlich so bleibt, wie es ist, gut nachvollziehen. Wenn man sich anschaut, welche Probleme für einen dauerhaften Frieden gelöst werden müssten, kann einem schwindelig werden. Was wird mit den jüdischen Siedlungen im Westjordanland? Ich glaube nicht, dass in Israel ein kompletter Rückbau der Siedlungen politisch durchsetzbar ist. Was ist mit Ostjerusalem? Was ist mit dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge? Israel kann dieses Recht nicht gewähren – die palästinensische Führung kann nicht darauf verzichten. Auch der Graben zwischen den Gemäßigten auf beiden Seiten scheint unüberwindlich tief.

Und wer ist schuld?

Das weiß ich nicht. Ich finde die Frage auch nicht so interessant. Was mich fasziniert ist, dass eigentlich alle Israelis wissen, dass die Besetzung der palästinensischen Gebiete Israel als jüdisch- demokratischen Staat gefährdet. Alle wissen es – und trotzdem halten wir seit 40 Jahren an der Besatzung fest. Obwohl wir genau wissen, dass dies am Ende eine selbstmörderische, zukunftszerstörende Politik ist.

Vielleicht traut sich deswegen niemand Siedlungen zu räumen, weil dies kurzfristig richtigen Ärger bringt.

Ja, das ist der rationale Aspekt. Aber es gibt auch das Irrationale. Beide Völker definieren ihre Identität durch das Land – und zwar durch das ganze Land. Deshalb ist jeder Kompromiss über Sicherheit, Land, Wasser so enorm schwierig. Wir können Jerusalem nicht aufgeben, sie können Jerusalem auch nicht aufgeben. Denn es geht um komplexe nationale, ethnische und religiöse Identitäten. In Jerusalem ist zum Beispiel die Frage, wer die Souveränität auf dem Tempelberg besitzen wird, von entscheidender Bedeutung. Jeder, der das mit ein bisschen Distanz betrachtet, fragt sich: Warum soll dieser Tempelberg, ein Haufen Steine, das Leben von Tausenden wert sein? Mit rationalem Interessenausgleich kommt man da nur bedingt weiter.

Besuch: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist seit Sonntag in den USA. Am Montag wird er Präsident Barack Obama seinen Antrittsbesuch erstatten. Ferner soll er mit Außenministerin Hillary Clinton und jüdischen Kongressabgeordneten sprechen.

■ Begleitung: Begleitet wird Netanjahu von seiner Ehefrau Sara, die sich israelischen Medien zufolge allerdings nicht mit Michelle Obama treffen wird.

■ Themen: Netanjahu will sich offenbar auf das Thema Iran konzentrieren. Nach eigenen Angaben will er sich nicht ausdrücklich zur Errichtung eines unabhängigen Palästinenserstaats bekennen.

Analyse: Siehe Seite 10.

Welche Rolle spielt der Holocaust für die israelische Identität?

Wahrscheinlich sogar eine noch größere als früher. In Schulen gibt es regelmäßig Umfragen: Die Kinder werden gefragt, ob sie Holocaust-Überlebende sind. 80 Prozent sagen ja. Nun ist der Satz „Ich bin ein Holocaust-Überlebender“ für einen Zwölfjährigen, der in Israel geboren ist und dessen Großeltern aus Marrokko stammen, schon erstaunlich. Man kann sich leicht darüber lustigmachen. Aber man muss das auch ernst nehmen. Denn es ist ein Echo der wahren Angst in Israel, wieder Opfer zu werden.

Was meinen Sie mit „wahrer Angst“?

Spontane, nicht manipulierte Angst. Natürlich sind Holocaust-Ängste politisch eingesetzt und instrumentalisiert worden. Aber die Vernichtungsängste sind echt. Wer das nicht versteht, wie es leider noch immer viele Araber tun, wird Israel nie verstehen. Und es ist immer besser, seinen Feind zu verstehen.

Ist das wahre Gefühl, jederzeit Opfer sein zu können, nicht auch eine Gefahr? Weil wer sich so stark als Opfer definiert, moralisch selbst immunisiert ist?

Doch, natürlich ist das eine Gefahr. Das macht ja den Konflikt mit den Palästinensern zusätzlich so komplizierter. Wir wollen beide Opfer sein und in dieser Rolle anerkannt werden.