Die Partei war sein Leben

Der Hamburger Widerstandskämpfer Tönnies Hellmann wäre morgen 92 Jahre alt geworden. Eine Würdigung von Jennifer Neufend

An der Wand des höchstens acht Quadratmeter kleinen Raumes ist eine Klapppritsche befestigt. Ungefähr 180 mal 80 Zentimeter misst sie. Auf dem kleinen Holztisch steht eine Waschschüssel. Ein Schemel befindet sich unter dem Tischchen. Diese Zelle im ehemaligen Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel ist nachgebaut. Es fällt schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es den Männern und Frauen erging, die unter den Nationalsozialisten gefoltert, gequält und auch getötet wurden. Tönnies Hellmann war einer von ihnen. Er hat die Haft in Fuhlsbüttel überlebt. Er hat den Krieg überlebt. Und die Gefangenschaft in Russland hat er auch überlebt.

Am 29. Dezember 1912 wurde Hellmann in Hamburg geboren. Als Sohn einer Arbeiterfamilie wuchs er in der Methfesselstraße in Eimsbüttel auf. Wie viele andere begann er 1927 eine Schiffszimmerlehre bei Blohm & Voss. Dort lernte er nicht nur einen Beruf, sondern auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterklasse kennen. Zuerst, so riet ihm sein Geselle Walter Bohne, solle er in die Gewerkschaft eintreten.

Anfang der 30er Jahre wurde Hellmann arbeitslos und schloss sich der Jugendsturmabteilung des Rotfrontkämpferbundes der KPD an, um sich gegen die Nationalsozialisten zu wehren. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie die Zahl der Nazis zugenommen hatte. Das waren nicht ein paar, sondern waren Hunderttausende hier in Hamburg“, sagt Hellmann in seiner Lebensgeschichte Ich war bestimmt kein Held, die Friedrich Dönhoff und Jasper Barenberg aufgeschrieben haben.

Seit seiner Arbeit im Rotfrontkämpferbund war der KPD-Schulungsleiter Fiete Schulze Hellmanns „großes Vorbild“. Schulze wurde 1935 per Handbeil hingerichtet, weil er Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hatte. 1933 wurde Hellmann von der Gestapo verhaftet. „Ich sollte meine Freunde und Genossen verraten. Ich war immer in Einzelhaft. Es war ein Flügel im Zuchthaus nur für politische Häftlinge“, berichtet Hellmann. Tag und Nacht wurde in diesem Flügel gefoltert. Die Insassen hätten sich die Ohren zugehalten, da sie es nicht mehr ertrugen.

Viele Hundert Menschen sind dort zu Tode gequält oder in den Selbstmord getrieben worden. Dies sei, sagt Hellmann rückblickend, seine schlimmste Zeit gewesen. Nach einem halben Jahr wurde er entlassen. In den folgenden zwei Jahren musste er ständig bei der Gestapo „Meldung machen“.

1943 zog ihn die Wehrmacht ein, als „Kanonenfutter“. Auch die zwei Jahre an der Ostfront hat er überlebt. „Ich habe unsere Jugend sterben sehen, ich hatte furchtbare Erlebnisse beim Abschlachten von Menschen an der Front und später im Gulag“, berichtete Hellmann.

Als Kommunist glaubte er fest an Stalin. „Ich wusste, dass der Hitlerfaschismus die Russen als Untermenschen eingestuft hatte, die vernichtet werden sollten.“ Er glaubte, dass die Sowjets keine Kriegsgefangenen töten oder Offiziere erschießen würden. „Erklärtes Ziel war vielmehr unsere Umerziehung, damit wir später ein friedliches, demokratisches Deutschland aufbauten.“

Mit dieser Einstellung schuftete er von 1945 bis 1947 in einem Arbeitslager im Nordural. Schnell merkte er, dass die Arbeitsnormen nicht zu erfüllen waren, dass die gefangenen Soldaten starben. „Jeden Morgen gab es Kämpfe um den Kanten Brot. Einige Gefangene waren gerade 17 Jahre alt. Die Schmerzen und die Tränen dieser Kinder bei ihrem langsamen Sterben mit anzusehen, war für mich kaum erträglich.“

Da Hellmann in der KP in Deutschland war, wurde er 1946 zum Leiter des Antifa-Aktivs im Lager. Die Lagerleitung brauchte unter den Gefangenen Leute, die für sie als Propagandisten tätig waren. Um die Mitgefangenen zu Antifaschisten zu erziehen, musste Hellmann Vorbild sein: „Nicht nur durch Reden! Sondern du musst vorbildlich sein im Handeln und Denken. Und auch beim Essen – man muss unbestechlich sein.“ 1948, erzählte Hellmann, habe sich die Situation der Kriegsgefangenen allmählich verbessert. Aber da „war es für meine politische Arbeit zu spät“.

Nach fünf Jahren Gefangenschaft durfte er zurück in die Bundesrepublik, nach Hamburg. Doch auch nach diesen leidvollen Erfahrungen wandte er sich nicht von der Mutterpartei ab. „Die eigentliche Hauptaufgabe, die ich innerlich hatte, war, politische Arbeit hier in Hamburg zu leisten.“ Für den überzeugten Kommunisten war die Partei das Leben. Dort waren die Genossen und Genossinnen, mit denen er in der Nazizeit immer brüderlich zusammen gewesen war. „Das waren einmalige Menschen. Die hatten freiwillig und nur für ihre Ideale im Widerstand ihr Leben riskiert“, sagt Hellmann. Die verschiedenen hauptamtlichen Funktionen, die die Partei ihm anbot, lehnte er allerdings ab. Im Innern, sagt er in Ich war bestimmt kein Held, sei er nach dem Krieg gegen Gewalt und für eine friedliche Entwicklung gewesen. 1956 wurde die KPD verboten.

Hellmann begann Bücher zu lesen über den Marxismus und Erfahrungsberichte anderer Kriegsgefangener in Russland. Er abonnierte die Zeit. In dieser wurde er aufmerksam auf Heinrich Böll und brachte sich mit 70 Jahren das Schreibmaschineschreiben bei, um mit Böll in Kontakt treten zu können. Auch mit Lew Kopelew und Helmuth Gollwitzer korrespondierte er umfangreich.

„Ich habe in der Zeit auch viele Artikel von Marion Gräfin Dönhoff gelesen. Mit denen war ich meistens einverstanden. 1984 las ich einen Artikel, mit dem war ich gar nicht einverstanden.“ Hellmann setzte sich an seine Schreibmaschine und verfasste einen kritischen Brief, in dem er auch etwas über sich erzählte. Das war der Beginn einer langen Freundschaft. Auch wenn die Arbeiterkreise meist über Hellmann lachten, wenn er von „der Gräfin“ sprach: „Also allgemein war in den Arbeiterkreisen eine ablehnende Haltung gegenüber dem Adel.“

Zum Ende seines Lebens hatte Hellmann dem Kommunismus und Stalin endgültig den Rücken zugekehrt und sich dem christlichen Glauben verschrieben. Vor Schulklassen und an Universitäten sprach er über sein Leben und über das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten.“ – „Mir selber war jetzt klar: Ich hatte 40 Jahre meines Lebens für eine falsche Ideologie gekämpft! Es war der falsche Weg der Gewalt gewesen.“

„Tönnies war ein leider sehr ungewöhnlicher Mann, denn solche Männer täten jedem Land öfter gut“, sagt die in St. Georg lebende Reporterin Peggy Parnass über ihren Freund Tönnies. Ihre Familien hatten in der Methfesselstraße einander gegenüber gewohnt, Tönnies war sehr befreundet mit Parnass‘ Eltern, die dann in Treblinka umgebracht wurden. Seitdem sie erwachsen ist, sagt Parnass, sei Tönnies ihr Freund und Mitstreiter.

Als bei Rowohlt das Buch Ich war bestimmt kein Held erschien, habe sie sich sehr gefreut. Ebenso über die Ehrung durch den Senat als Widerstandskämpfer vor ein paar Jahren, auch wenn dies im kleinen Kreis geschah. Durch seine Vorträge und Veröffentlichungen habe Hellmann sich etwas Geld zu seiner Minimalrente hinzuverdient. „Nur Tönnies war eben Tönnies“, sagt Parnass, „er trug jeden einzelnen Pfennig umgehend in die Universitätsklinik für krebskranke Kinder.“

Der Antifaschist und Widerstandskämpfer, der im Oktober gestorben ist, wäre morgen 92 Jahre alt geworden. „Welch ein Verlust, dass es ihn nicht mehr gibt!“, sagt Parnass. „Durch die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes kannte ich Widerstandskämpfer wie Tönnies, sonst hätte ich in Deutschland keinen Tag bleiben mögen.“

Tönnies Hellmann, sagt Parnass, „war anständig und er blieb anständig. Ihm fiel nicht, wie einigen adeligen hohen Militärs, Widerstand gegen die Nazis 1944 ein, als der Krieg nicht mehr so glatt für Deutschland lief, sondern von Anfang an.“

Friedrich Dönhoff/Jasper Barenberg: „Ich war bestimmt kein Held. Die Lebensgeschichte von Tönnies Hellmann. Hafenarbeiter in Hamburg.“ Einleitung: Marion Gräfin Dönhoff. Rowohlt: Reinbek, 1998.Das Buch ist vergriffen, aber in Antiquariaten weiterhin erhältlich