„Es gibt keinen Nachfolger“

Der Protestforscher Dieter Rucht über die Unterschiede zwischen APO und Attac – und warum es heute keinen Star wie Rudi Dutschke gibt

INTERVIEW BETTINA GAUS

taz: Herr Rucht, sehen Sie einen Nachfolger für Rudi Dutschke als Star einer sozialen Bewegung?

Dieter Rucht: Nein. Es ist eine andere Zeit. Die Bedingungen für prominente und charismatische Persönlichkeiten sind nicht mehr so günstig wie damals, und sie waren bereits 1968 nicht mehr so gut wie in der Weimarer Republik oder während des Kaiserreichs.

Woran liegt das?

Es gibt zwei gegenläufige Trends. Einerseits eignet sich das Mediensystem gut dafür, Prominente zu fabrizieren. Gerade dies hat aber auch in den sozialen Bewegungen das Bewusstsein dafür geschärft, dass sich Basisdemokratie und Prominenz schlecht vertragen. Es handelt sich ja mehr um Netzwerke als um Organisationen. Das gilt jedenfalls für linke Bewegungen. Die Rechte hat aus anderen Gründen derzeit keinen Führer, vor allem deshalb nicht, weil sie so zersplittert ist.

Ist der Mangel an charismatischen Personen nicht auch ein Grund für die Schwäche von sozialen Bewegungen?

Nein. Nur dafür, dass deren Anliegen in den Medien nicht so präsent sind. Medienpräsenz ist aber nicht identisch mit der Stärke einer Bewegung. Wenn sich die Aufmerksamkeit zu sehr auf einzelne Personen konzentriert, liegt darin sogar eine Gefahr: Eine Bewegung droht dann mit diesen Personen zu stehen oder zu fallen. Außerdem können einzelne Prominente kein Netzwerk aufbauen. Das ist immer die Kärrnerarbeit von vielen, zumeist unbekannten Leuten.

Wären die Grünen ohne ihre Stars je über fünf Prozent gekommen?

In der Gründungsphase gab es ja gar keine Stars in der Partei, außer vielleicht Petra Kelly. Die galt aber nur in der Öffentlichkeit als Ikone, intern war sie ziemlich umstritten. Ähnliches trifft auf Alice Schwarzer und die Frauenbewegung der 70er- und 80er-Jahre zu. Sie war ein Aushängeschild für die Medien, aber für die interne Debatte ziemlich bedeutungslos. Auch in der Anti-AKW-Bewegung haben Prominente wie Robert Jungk eine viel geringere Rolle gespielt als das flächendeckende Netzwerk. Es gibt etliche Beispiele für erfolgreiche Bewegungen ohne herausragende Führungspersönlichkeiten.

Herr Rucht, Sie sagen, die Bedingungen für charismatische Persönlichkeiten seien schon 1968 nicht mehr so günstig gewesen wie etwa in der Weimarer Republik. Wieso wurde Rudi Dutschke zum Sprecher der Studentenbewegung?

Das lag sowohl an seiner Persönlichkeit als auch an seiner Rolle. Er hatte eine große Ausstrahlung. Liest man jedoch die Reden nach, so wirken sie eher hölzern. Aber die Leute hatten das Gefühl: Der brennt innerlich. Außerdem hatte er eine Brückenfunktion inne. Dutschke konnte als nahezu Einziger beide Flügel der Bewegung – das antiautoritäre Lager und das politisch-strategische Lager – ansprechen und war für beide offen. So verkörperte er die Hoffnung, dass Einheit erreichbar ist.

In Frankreich ist Daniel Cohn-Bendit der Star der Studentenbewegung geworden, in der Bundesrepublik Rudi Dutschke. War das Zufall oder war Dutschke in mancher Hinsicht auch „typisch deutsch“?

Cohn-Bendit verkörpert den Typus des ungestümen, spontanen, mitreißenden Redners, Dutschke eher den des systematischen Kopfarbeiters, der in nächtelangen Diskussionen eine Position festlegt und dann einen Plan vorträgt. Das entspricht wohl in gewisser Weise dem deutschen Nationalcharakter.

Die Studentenbewegung identifizierte sich früher auch über Musik, Kleidung und andere kulturelle Merkmale. Bei Bewegungen wie Attac ist das so nicht mehr der Fall. Woran liegt das?

In der 68er Zeit wollte man im Handstreich das alte System beseitigen. Da gab es wirklich die Vorstellung: Wir heben jetzt dieses System aus den Angeln, und dann werden wir die Gesellschaft vom Nullpunkt aus neu gestalten können. Es gab damals einen umfassenden Anspruch, der auch die Alltagskultur einschloss. Diese Vorstellung ist den heutigen Bewegungen reichlich fremd. Heute geht es eher darum, das System durch viele kleine Nadelstiche zu verändern. Das heißt auch, dass man sich auf einen Reformismus einlassen muss, der allerdings durchaus radikal sein kann.

Ist es nicht auch so, dass die Wünsche hinsichtlich einer künftigen Gesellschaft heute in den westlichen Metropolen nicht mehr so homogen sind wie früher?

Gefühle und expressive Momente hatten früher ungleich größere Bedeutung für soziale Bewegungen als heute. Die Akteure von heute sind sehr nüchtern, sehr pragmatisch – und auch desillusioniert. Sie haben an ihren Eltern gesehen, wo die Grenzen ihrer Möglichkeiten liegen.

Keine Stars und nun also auch keine gemeinsamen Symbole: Kann das funktionieren?

Ganz ohne Symbole geht es nicht. Es ist auch durchaus möglich, dass diese Nüchternheit irgendwann als Defizit empfunden wird und dann als Reaktion genau das entsteht, was im Augenblick schwächer ist. Hinweise darauf gibt es bereits. Das Weltsozialforum ist auch ein Fest der Gefühle, Symbole und Versprechungen: „Eine andere Welt ist möglich.“ Inhaltlich wird dabei aber vieles offen gelassen – auch deshalb, weil es innerhalb der globalen Bewegungen große inhaltliche Divergenzen gibt, vor allem zwischen Südländern und Nordländern.

Erschwert die wachsende internationale Vernetzung von Bewegungen nicht ohnehin die Einigung auf eine gemeinsame, identitätsstiftende Plattform?

Ja. Die 68er hatten auch eine globale Perspektive. Aber die faktischen Diskussionen bewegten sich im jeweiligen nationalen Rahmen. Es wurde allenfalls mal ein Gastredner aus dem Ausland eingeladen. Heute sind nach wie vor die meisten Bewegungen lokal oder national, aber darüber hinaus gibt es bei einigen tatsächlich eine globale Vernetzung. Wenn das so ist, dann ist Internationalität mehr als bloße Rhetorik, dann lassen sich gemeinsame, weltweite Kampagnen organisieren. Greenpeace und amnesty zeigen das oder auch die Jubilee-2000-Kampagne für die Entschuldung der armen Länder. Sie hat die größte Unterschriftensammlung der Geschichte zu Wege gebracht.

Dennoch hat es früher ein internationales Thema, nämlich den Vietnamkrieg gegeben, der zum einigenden Anliegen der Studentenbewegung in der ganzen westlichen Welt wurde. Ein solches Anliegen scheint es heute nicht zu geben, aller scharfen Kritik am Irakkrieg zum Trotz. Woran liegt das?

Ho Chi Minh verkörperte einen antiimperialistischen Kampf, mit dem sich viele identifizieren konnten. Saddam Hussein ist dafür ungeeignet. Vor allem aber spiegelt die Vielzahl der Themen auch die Tatsache wider, dass es den Bewegungen heute eben nicht mehr darum geht, alles aus den Angeln zu heben, sondern um ein mühsames, tägliches Ringen auf vielen Feldern. Das Terrain ist hochgradig parzelliert: Die einen kümmern sich um Regenwälder, die anderen um politische Gefangene, wieder andere um Robben. Dem entsprechen sehr divergierende Lebensentwürfe. Die Anhänger der heutigen Bewegungen sind stärker individualisiert.

Das klingt alles durchaus vernünftig, aber nicht gerade mitreißend oder begeisternd.

Die Attac-Generation hat keine Utopie. Die Tobin-Steuer ist keine Utopie. Aber diejenigen, die heute bei Attac den Ton angeben, sind 30 Jahre und älter. Vielleicht deutet sich derzeit schon ein Generationenwechsel an. Vielleicht wollen die Jüngeren das Element des Utopischen wieder stark machen. Es gibt Anzeichen dafür, dass die ganz Jungen wieder sehr viel mehr Enthusiasmus zeigen und sehr viel mehr Hoffnungen haben als die etwas Älteren. Für sie liegt eben die Desillusionierung der 68er schon ziemlich weit zurück.