Wunderbar ewiggleich
Nah am Original

Dem Weihnachtsmann entkommt man nicht. Drei Geschichten zum Fest der Liebe

Mein erstes Weihnachten erlebte ich 1978. Damals war ich acht Jahre alt und gerade erst zwei Monate in Berlin – meine Eltern hatten mich und meine Geschwister noch rechtzeitig vor dem Putsch aus der Türkei geholt, um uns in Deutschland auf die Schule zu schicken. So begegnete ich meinem ersten Weihnachtsmann.

Mein Vater nahm uns mit zu der großen Weihnachtsfeier, die sein Arbeitgeber, eine große Berliner Gasfirma, alljährlich Anfang Dezember für ihre Angestellten und deren Kinder organisierte. Wie zum islamischen Zuckerfest üblich, waren wir von unseren Eltern für diesen Termin allesamt mit neuer Kleidung ausgestattet worden. Am Eingang begrüßte uns der Weihnachtsmann, nahm uns in den Arm und beschenkte uns mit Mandarinen und Süßigkeiten.

Ich war begeistert: Mit so einem weißen Bart hatte ich mir immer Gott vorgestellt. Ein Kinderchor in Engelskostümen sang Weihnachtslieder, deren Melodien wir uns sofort einzuprägen versuchten. Dann folgte der „Aschenputtel“-Film von Walt Disney, und zum Schluss, zur Krönung, gab es eine ganze Einkaufstüte voller Kinderschokolade, Spekulatius und Dominosteine. Die Kinderschokolade war für uns ein Hit. Das Gebäck und die Marzipankugeln aber landeten nach einiger Zeit meist im Müll: Wir konnten uns wohl nicht an den merkwürdigen Geschmack gewöhnen.

Das also waren deutsche Weihnachten, dachte ich. Umso irritierter war ich, als meine Klassenkameraden erst Wochen später von Weihnachten sprachen, und damit ihre Geschenke meinten: Pullover, Bücher, Kassetten, Buntstifte, die Liste nahm kein Ende. Als ich gefragt wurde, sagte ich einfach, wir hätten schon längst Weihnachten gefeiert.

Das glaubte mir natürlich keiner. Allerdings brachte mein Vater uns eines Tages ein Buch mit Weihnachtsliedern mit nach Hause, vom Flohmarkt vermutlich. Da wir keine Noten lesen konnten, dachten wir uns zu den Liedern eigene Melodien aus. Später sollte ich fest stellen, dass wir damit nicht weit von den Originalen lagen.

Heute kann ich mich nicht mehr entziehen, wenn Weihnachten naht. Alle meine Freunde feiern Weihnachten – selbst meine türkischen und kurdischen Freunde, jedenfalls, wenn sie Kinder haben. Was soll man auch sonst machen an den freien Tagen, wenn das gesamte öffentliche Leben ruht? Außerdem ist es ja ein schöner Brauch, es sich zum Jahresende mit Kerzen und Geschenken gemütlich zu machen. Der Adventskranz im Wohnzimmer brennt schon seit Wochen, die Geschenke für Heiligabend sind schon gekauft. In diesem Jahr soll es dazu erstmals eine Gans geben. ZONYA DENGI

Die Pflicht ruft

Weihnachten ist eine schwierige Geschichte und wird auch nicht einfacher, wenn man älter wird. Gerade wenn man selber keine Familie hat, die die Familie, aus der man kommt, fortsetzt, wenn gerade keine Freundin da ist, die legitimieren könnte, nicht „nach Hause“ zu fahren, oder die als Verbündete mitkommen könnte. Dorthin, wo man groß geworden ist, an diesen Ort, an dem man die ersten zwanzig Jahre seines Lebens gelebt hatte.

Zwar hat man sich davon gelöst, diesen Ort grauenhaft zu finden (mit allem Romantischen, was darin liegt; man genießt das ja auch), zwar feiert man zunächst in der Familie der Schwester, die ein paar Kilometer vom Heimatort entfernt wohnt, aber dennoch. Immer hatte ich mir überlegt, zu Weihnachten nicht nach Hause zu fahren, habe es dann doch immer gemacht (aus Pflichtgefühl, wie ich mir sagte) und immer fand ich es anstrengend. Nicht so sehr das tatsächliche Fest, sondern eher die Vorbereitungen, die einen überfordern.

Die Zeit des Countdowns beginnt mit dem Telefonanruf, mit dem man sein Kommen ankündigt, und endet, wenn man dann vor der Tür des Hauses der schwesterlichen Familie steht, oder eigentlich erst, wenn man die hastig zusammengekauften Geschenke kurz vor der so genannten Bescherung verpackt hat. Dazwischen hat man es wieder nicht geschafft, auf ein Wir-schenken-uns-nichts-oder-maximal-bis-5-Euro-für-jeden zu dringen, sich eine Fahrkarte zu kaufen und außerdem noch wahnsinnig viel zu arbeiten.

Für Kinder ist Weihnachten der Einbruch des Wunderbaren, für Erwachsene die Wiederkehr des Immergleichen; gefühlsmäßig eher, denn tatsächlich ändert sich ja was. Doch die Wiederholung zeichnet sich ja immer durch eine leichte, entscheidende Verschiebung auf der Zeitachse aus; das Wiederholte ist nie das Gleiche, sondern verweist immer auf die Endlichkeit, auf den Tod, wie der gemarterte Jesus am Kreuz, den man in modernen evangelischen Kirchen nicht mehr abbilden mag. In der Gegend, wo man groß wurde, leben nur noch Rentner. Die Eltern werden älter, man selber auch und selbst die Kinder. Weil man selber keine Kinder hat, nicht mal ein Auto, wird man automatisch infantilisiert, zum Kind, um das sich die Eltern sorgen: „Du siehst ja so dünn aus.“

Gern hätte man tolle Geschenke gekauft, aber das kriegt man wohl nie hin und das stört auch niemanden weiter. Die gute Absicht zählt, das Geschenk ist in erster Linie Symbol, zumindest unter Erwachsenen. Man fährt aus Pflichtgefühl und aus Respekt in die weihnachtliche Parallelwelt. Das klingt freudloser, als es ist, denn es liegt ja Befriedigung darin, sich diesem Fest zu stellen. Außerdem ist es auch schön, Heiligabend Gesellschaftsspiele zu spielen und am Morgen des ersten Weihnachtstages Fernsehen zu gucken. DETLEF KUHLBRODT

Der schöne Zwang

Seit 19 Jahren wohne ich jetzt schon in Berlin, und noch kein einziges Mal hab ich Weihnachten in der Stadt verbracht. Berlin an Weihnachten kenne ich nur aus Erzählungen: Wie leer und still die Stadt da sei, was für eine schöne, ganz eigene Stimmung da über den leeren Straßen läge, und dann am Heiligabend die Konzerte in der Volksbühne, The Fall spielt oder Stereo Total und man trifft alle anderen Hiergebliebenen.

Ich selbst aber verbrachte mein ganzes bisheriges Leben lang Weihnachten in Hügelsheim, einem kleinen badischen Dorf am Rhein. Es hat sich einfach so ergeben. Als Kind und Jugendliche feierte man Weihnachten sowieso mit den Eltern, als ich dann in Berlin wohnte und erst mal einsam war und keinen kannte, lieferte Weihnachten einen willkommenen Grund für den Besuch daheim und bei den alten Freunden.

Meine Geschwister hatten längst eigene Familien gegründet und verbrachten Heiligabend bei den Schwiegereltern in den Nachbardörfern, kamen höchstens spätabends noch vorbei. Ich als Jüngste hatte zwar ein Kind, aber trotzdem keine richtige eigene Familie vorzuweisen und war deshalb immer bei meinen Eltern. Manchmal brachte ich meinen Freund aus Berlin mit, aber nie zweimal denselben. Ich dachte oft an ein anderes Weihnachten: einfach zu Hause bleiben, sich mit Freunden treffen, abends ausgehen. Da hatte hat man doch selbst so gekämpft für ein eigenes anderes Leben, nach anderen Gesetzen, und saß dann doch am 24. unter dem Tannenbaum bei der Familie.

Bei der gestressten Mutter, der wieder keiner genug geholfen hat, und dem alten Vater, der im besten Falle sentimental wird: „Damals 1942 im Schnee in Russland, da hätte keiner von uns gedacht, dass wir noch einmal so ein Weihnachen erleben.“ – Weihnachten war oft anstrengend, es gab gerne Krach und es waren meistens nur Momente, die gut waren. Aber die Eltern wurden immer älter und zerbrechlicher, unmöglich, mit der Weihnachtsautonomie gerade jetzt anzufangen. Dann starb die Mutter, der Vater blieb allein, natürlich musste man grade an Weihnachten sich um ihn kümmern. Und da ich immer noch keine normale Familie mit Mann oder zumindest festem Freund und Schwiegereltern hatte, war es selbstverständlich, dass ich Weihnachten übernahm.

Jetzt, wo beide Eltern nicht mehr leben, gibt es eigentlich keinen Grund mehr, an Weihnachten in das Dorf zu fahren – wir fahren trotzdem. Die erwachsene Tochter besteht nun auf diesem Kindheitsritual. Ich könnte natürlich zu Hause in Berlin bleiben – aber so ganz ohne Familie, ohne Kind? Vielleicht nächstes Jahr. Es ist wie ein Fluch, es hört nie auf.

Ich will Weihnachten auch nicht ignorieren. Es ist ein schönes Fest und die Weihnachts- und Konsumkritik à la „Süßer die Kassen nie klingeln“ fand ich schon vor 20 Jahren albern. Trotzdem ist es seltsam. Für fast alle Lebensbereiche wurden neue Formen gefunden, Kinderläden, Indierock, Patchworkfamilien, bohemistische Lebensentwürfe, hedonistische Mangelwirtschaft – neue Bräuche und Rituale –, nur für Weihnachten nicht. Das wird ja auch von den Weihnachtsverweigerern höchstens imitiert, die Gans mit Freunden statt mit der Familie verspeist. Oder es wird ironisch gefeiert: mit einem ironischen Adventskranz, ironischem Flötenspiel, ironischen Plätzchen, ironischem Christbaumschmücken. Auf dem Dorf kann man kann sogar ironisch oder kulturell-katholisch zur Christmette gehen.

Aber irgendwann muss doch endlich mal Schluss sein damit, mit diesem innerlichen Weihnachtszwang. Vielleicht nächstes Jahr. CHRISTIANE RÖSINGER