„Vielfalt von Nuancen“

Es wird immer schwieriger, Religiosität abzubilden, sagt die französische Religionsgeografin Brigitte Dumortier

taz: Frau Dumortier, wie kann man Religiosität überhaupt auf einer Karte darstellen?

Brigitte Dumortier: Es ist in der Tat schwieriger geworden. Vor fünfzig Jahren waren die Bürger eines Staates einer bestimmten Religion leicht zuzuordnen. Heute gibt es es eine Vielfalt von Nuancen. Die beste Methode ist, die Menschen zu fragen, wie sie selbst ihre Religiosität einschätzen.

Wie hat sich Religiosität in Europa gewandelt?

Neben der Wiedergeburt des Fundamentalismus – nicht nur bei den Islamisten – gibt es eine neue Attraktivität von Religionen, die sich nicht nach starren Dogmen richten. Neue religiöse Strömungen sind alle sehr gefühlsbetont und individuumszentriert. Die Gewinner sind vor allem esoterische Strömungen.

Geht Religion nur noch den Einzelnen an?

Die Religion ist individualisiert. Jeder bastelt sich seine eigene Religion zurecht – eine Religion à la carte.

An Ihrer Karte zeigt sich jedoch, dass Staatsbürgerschaft immer noch Einfluss auf die Religiosität hat.

Man muss den Stand der Modernität und geistesgeschichtliche Traditionen in dem jeweiligen Land berücksichtigen. Das zeigt sich an den zum Teil erheblichen Differenzen zwischen den Ländern des ehemaligen Ostblocks. In Polen zum Beispiel werden die Forderungen von Rom buchstäblich beachtet, auch was gesellschaftliche Fragen wie Abtreibungsgesetze betrifft. In solchen Ländern ist die Kirche gestärkt aus der Rolle als Widerstandsbewegung hervorgegangen. In anderen Ländern, wie beispielsweise in der Tschechischen Republik, hat sich eine tief verwurzelte atheistische Kultur entwickelt. INTERVIEW:
GUILAINE TROSSAT

Brigitte Dumortier ist Geografin an der Pariser Sorbonne und Autorin des Buches „Atlas der Religionen“ (Militzke Verlag, 2004), dem die Abbildung entnommen ist.