„Heimat ist immer etwas Verlorenes“, sagt Edgar Reitz

Der dritte Teil der „Heimat“-Saga beantwortet auf neue Weise die Frage, wie es ist, ein Deutscher zu sein

taz: Herr Reitz, was bedeutet der Begriff Heimat in Zeiten der Globalisierung für Sie?

Edgar Reitz: In unseren Zeiten bekommt das Wort Heimat eine vollkommen neue Dimension. Es ist kein romantisches altertümliches Wort für vergangene Idyllen, sondern es erinnert uns ganz aktuell an menschliche Erfahrungen. Heimat ist ein Begriff in Wandlung.

Warum?

Wir leben in einer Zeit großer Migration auf dem ganzen Globus. Menschen verlassen ihre Heimat und suchen ihr Lebensglück an anderen Orten. Deutschland war lange Zeit eine Monokultur, was die Bevölkerung angeht, aber wenn Sie heute durch eine beliebige deutsche Kleinstadt gehen, hören Sie dort viele Sprachen der Welt. Das ist oft als Problem beschrieben worden. Man vergisst dabei aber: Alle diese Menschen haben ihre Heimat verloren. Auch unter Deutschen gibt es diese Verlusterfahrungen. Aber man hat sie unter den Teppich gekehrt und gesagt: Deutsche sind Deutsche, egal wo sie herkommen. In der „Heimat 3“ beschreibe ich beispielsweise Geschichten von Russlanddeutschen, die ihre Wurzeln in Kasachstan und Sibirien haben.

Haben Sie in Ihrem Leben selbst Heimat verloren?

Heimat ist immer etwas Verlorenes. Ich habe nicht die Erfahrungen von Menschen, die aus Kasachstan nach Deutschland gekommen sind. Ich gehöre auch nicht zu denen, die sich aus Teilen Deutschlands vertrieben fühlten.

Und was war Ihr Verlust?

Heimat ist ja nicht nur etwas Örtliches. Heimat ist zunächst einmal das Land der Kindheit. Die Welt, in der wir uns behütet fühlen. Natürlich ist dies auch ein konfliktgeladenes Land. Im Alter zwischen 15 und 17 Jahren lebte ich in einem unglaublich harten Konflikt mit der so genannten Heimat. Nirgendwo auf der Welt kann man sich so missverstanden fühlen. Man teilt mit den Menschen vor Ort die Sprache und das ganze Lebensgefühl. Wenn man dann trotzdem nicht verstanden wird, auch von seinen eigenen Eltern nicht, ist das wirklich schmerzlich. Daraus auszubrechen und weit weg zu wollen ist eine andere Form von Heimatverlust. Das war für mich der Ausgangspunkt. Ich habe den Hunsrück verlassen und bin zum Studium nach München gegangen. Ich bin ein reiner Großstadtmensch geworden. Das Weglaufen bringt nicht unbedingt Glück, aber manchmal ist es eine Notwendigkeit. Eines Tages kommt der Punkt, an dem man sich fragt: War das richtig? Man sehnt sich vielleicht zurück, aber wehe, man tritt die Heimkehr an.

Warum?

Weil vieles nicht mehr so ist, wie es war. Alles, was man in Erinnerung hat, ein Traum oder ein Kindheitsgefühl, ist unwiederbringlich verloren. Im ersten Teil der Heimat-Trilogie heißt es, dass einer nach Amerika geht, nach dreißig Jahren zurückkehrt und erwartet, dass seine Pantoffeln noch vor der Schlafzimmertür stehen. Das ist eine Fiktion, Heimat ein unerfüllbarer Traum.

Sie haben insgesamt 54 Stunden Film produziert. Was hat Sie über diesen langen Zeitraum hinweg angetrieben, sich immer wieder neu der Arbeit an „Heimat“ zu widmen?

Das Schöne ist, dass in diesem Projekt Arbeit und Leben miteinander verschmelzen. Normalerweise ist eine Filmproduktion ein Ausnahmezustand. Bei mir ist sie Teil des Lebensrhythmus geworden. Bei dreißig Filmen hintereinander ist das Leben immer verbunden mit der Produktion, und es kommt vor, dass das Leben die Arbeit einholt oder die Arbeit das Leben. 1989 beispielsweise fiel die Mauer mitten in den Dreharbeiten für den zweiten Teil von „Heimat“. Während dieser Zeit war das ganze Team vollkommen auf die Sixties eingestellt. Wir konnten nicht den Mauerfall beschreiben, aber an dem Tag wusste ich: Das wird einmal der Ausgangspunkt sein für den dritten Teil der „Heimat“.

Der Schauplatz für den dritten Teil ist nun – nach München in „Heimat 2“ – wieder überwiegend der Hunsrück.

Es ist das Schicksal der Rückkehrer, sich mit der Rückkehr auseinander zu setzen. Das liegt in der Natur der Sache, denn in jedem Protest steckt letztendlich eine verratene Liebe. Wer wegläuft, muss eines Tages wiederkommen, um zu wissen, ob das Weglaufen richtig war. Die Protagonisten in „Heimat 3“ treffen sich, um festzustellen, ob ihre ortlose Lebensweise richtig ist. Es steckt aber in ihnen ein Romantizismus, der noch aus der Pubertät stammt, als sie einmal weggelaufen sind. Ich wähle für sie einen Ort, der nicht direkt der Hunsrück ist, sondern das Mittelrheintal gegenüber der Loreley.

Warum dort?

Für mich ist das fast der deutscheste aller deutschen Orte. Alles, was sich an Mythen, Märchen, Liedern und Tourismus um typisch deutsche Dinge dreht, hat dort seinen Brennpunkt. Nicht nur das Gedicht von Heinrich Heine, sondern auch der moderne Reise-Romantizismus verbindet sich mit diesem Ort. Gerade im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, in dem die Handlung von „Heimat 3“ einsetzt, ist dieser Ort ein magischer Punkt. Ich erzähle Geschichten nicht, um etwas zu beweisen, sondern um etwas nachträglich zu überprüfen. Es gibt nicht zuerst die Idee und dann die Geschichte, sondern zuerst die Geschichte und dann die Idee, die sich daraus herleitet. Und in „Heimat 3“ überprüfe ich die Frage: Wie ist das, ein Deutscher zu sein?

INTERVIEW: ARMIN PONGS
CARMEN ELLER