Der Weihnachtsmann

Es war so mit dem Weihnachtsmann: Ich habe ihn nie gesehen. Ich wusste nur, er machte doppelt so große Schritte wie ich und roch nach Zweitakter. Eines Tages verließ mich der Weihnachtsmann. Dann fiel die Mauer. Dann kam die erste Prinzessin. Ich brauchte einen neuen Weihnachtsmann.

VON NADJA KLINGER

Es ist aus. Für immer.

Es gibt ihn nicht, sagt die Prinzessin. Wir schweigen und starren ins Kerzenlicht. Wir haben keine Idee, wie’s weitergehen soll. Ich hab’s schon immer gewusst, sagt die Prinzessin. Sie lügt. Sie will uns fertig machen, weil wir sie betrogen haben. Betrogen?

Es ist zum Heulen.

Dabei war das Ende von Anfang an abzusehen: Zunächst glaubte sie, es gibt nur den einen. Das waren ihre schönsten Jahre. Dann erkannte sie den Wattebart. Die Sportsocken. Aber sie war immer noch auf beiden Augen blind. Erst nach und nach verschaffte ihr das Leben Durchblick. Das Gerede vom weißen Winterwald passte nicht zum Wetterbericht, den sie im Radio gehört hatte. Beim „Oh Tannenbaum“ traf der Weihnachtsmann nie den Ton, den man ihr in der Schule beigebracht hatte. Sie konnten sich beide nicht auf den Text einigen. Überhaupt war es immer dasselbe Lied. Die Prinzessin wurde misstrauisch. Das war der Anfang vom Ende.

Ihre Beziehung zum Weihnachtsmann war nicht für die Ewigkeit geschaffen. Und wiederum doch. Es gibt nämlich nichts, was diese Beziehung ersetzen kann. Ich selbst habe meinen Weihnachtsmann nie gesehen. Er kam immer dann, wenn mein Vater und ich unterwegs waren. Wir spazierten durch die Straßen. Mein Vater machte einen Schritt, wenn ich zwei machte. Wir blickten durch die Fenster in die beleuchteten Wohnzimmer und sagten nicht viel. Wir waren es nicht gewöhnt, miteinander allein zu sein. Mein Vater kam abends spät nach Hause. Er küsste meine Mutter, dann mich. Er setzte sich zu uns, in unser Leben. Sein Leben hat er stets im Auto gelassen.

Einmal im Jahr, am Heiligabend, durfte ich an diesem Leben riechen. Wir spazierten in die Sonnenallee, wo sich direkt an der Mauer unsere Garage befand. Mein Vater schloss auf. Er setzte sich in den Wartburg. Nur eine Minute, sagte er. Und startete. Ich stand am Auspuff und roch. Weihnachten! So schweigsam wie wir gekommen waren, gingen wir nach Hause zurück. Jetzt habt ihr ihn wieder verpasst, sagte meine Mutter, als sie die Tür öffnete. Ich hatte einen Weihnachtsmann. Schließlich habe ich ihn jedes Jahr verpasst. Obwohl ich ihn nie sah, kannte ich ihn genau. Er machte doppelt so große Schritte wie ich. Er konnte von außen in alle Wohnzimmer sehen und er roch wie ein Zweitakter.

Eines Tages hat der Weihnachtsmann uns verlassen. Mit meiner Mutter ließ es sich nicht gut durch die Fenster in fremde Stuben sehen. Sie wurde wehmütig dabei. Jetzt hast du ihn verpasst, sagte ich, als sie am Heiligabend mit verheulten Augen aus dem Badezimmer kam. Und tatsächlich lächelte sie. Unser Leben hielt viele Überraschungen bereit. Wir bemühten uns darum, dass etwas unverändert blieb.

Nachdem der Weihnachtsmann begraben worden war, fiel die Mauer. Sie walzten unsere Garage platt. Meine Mutter fand einen neuen Mann, aber keinen, der so große Schritte machte. Die erste Prinzessin kam auf die Welt, da gab es kaum noch Zweitakter. Weihnachten nahte. Ich musste ganz von vorn beginnen.

Ich brauchte Lieder, die ich immer wieder singen konnte. Ich brauchte einen Ort, und sei es nur so ein betoniertes Fleckchen wie das an der Sonnenallee. Ich brauchte den Weg, der dorthin führte. Ich brauchte den Weg zurück nach Hause. Ich brauchte einen neuen Geruch. Ich brauchte das alles ganz dringend. Ich brauchte mehr Menschen um mich herum, als nur meine Familie, denn ich wusste, wie schnell es passieren konnte, dass einer ging. Ich brauchte einen Weihnachtsmann. Ich trieb es auf die Spitze. Fortan wollte ich einen Weihnachtsmann, den man sehen konnte.

Wir sind mehrere Familien und reisen immer mit drei Autos an. Im ersten und auch im zweiten Jahr, haben die Bauern uns noch zugewinkt. Dann haben sie lediglich gegrüßt, sind aber sofort in ihren Höfen verschwunden. Mittlerweile zieht das Dorf die Gardinen zu, wenn es uns kommen sieht.

Wir sollen denken, nirgendwo ist jemand da. Aber wir wissen, was wir wollen. Wir wollen hier jedes Jahr unser perfektes Weihnachtsfest. Wir schleichen uns von hinten über den gefrorenen Acker an die Höfe an. Wir klingeln. Und verstecken uns, damit man uns nicht gleich erkennt. In den Anfangsjahren haben wir die Weihnachtsmänner noch sanft überwältigt. Der erste war mit unserer Hausverwalterin verheiratet. Sie wollte, dass wir noch öfter bei ihr Urlaub machen, und steckte ihren Mann höchstpersönlich in den roten Mantel.

Was soll ich denn sagen? fragte er.

Was du immer sagst, antwortete seine Frau. Er war Fernfahrer. Er kam mit dem Sack über der Schulter in stark gedrosseltem Tempo auf unser Haus zu, als könnte ihn die Polizei blitzen.

Im darauffolgenden Jahr schickte der Fernfahrer seinen Sohn. Dem legten wir einen Zettel auf die Stufen zu unserer Tür. Es waren ein paar Sachen über die Kinder vermerkt, die er sagen sollte. Er vertauschte die guten Taten mit den Schlampereien, gab den Jungen Mädchennamen. Den Schlitten, den er überreichen sollte, nahm er mit. Wir ließen nach der Bescherung ein paar Stunden verstreichen, dann gingen wir, den Schlitten zurückzuholen. Auf unser Klingeln hin kippte der Weihnachtsmann volltrunken aus seiner Wohnungstür. Er hatte noch Kostüm an.

Ick muss noch bei die andan Kinda vorbei, sagte er.

Im Jahr darauf hat ein Bauer den anderen verraten. Im so genannten Neubau des Dorfes, so erfuhren wir, hielt sich der Mann versteckt, der einst bei der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft vor über 100 Kindern den Weihnachtsmann gemacht hatte. Wir lauerten ihm auf. Wir stellten einen Fuß in den Spalt zwischen seiner Tür und dem Rahmen. Er begann zu weinen. Wir zogen ihm die Verkleidung an. Er wehrte sich nicht. Er flehte. Er klopfte leise bei uns an, aber wir standen bereits hinter der Tür. Schnaps, Weihnachtsmann? Wir brachten ihn alle zusammen nach Hause. Er trug den Bart wie einen Sabberlatz. Er bedankte sich hundertmal.

Zuletzt haben wir den Weihnachtsmann von der Pferdekoppel geholt. Mitten aus einer Notsituation. Es gab Blitzeis, die Tiere drohten auszurutschen. Es waren Rennpferde. Es herrschte Lebensgefahr. Die Nerven unseres Weihnachtsmann waren überspannt. Er sagte wortkarg zu. Der Mantel war ihm viel zu kurz. Er band ihn nicht zu. Man sah seinen nackten Oberkörper. Er trug bunte Shorts und kam in Badelatschen durch den Schnee. Direkt aus der Südsee, erklärte er. Zwei unserer Kinder fingen an zu weinen. Wir sollten das Lied „Mit Apfelsinen im Haar und an den Hüften Bananen“ singen. Sein Auftritt muss eine von den Bauern abgesprochene Sache gewesen sein.

Notgedrungen mussten wir die Weihnachtsmänner aus den eigenen Reihen stellen. Das Übliche: Einer aus der Runde sagt ganz laut: Ich geh jetzt mal aufs Klo! Kaum ist er fort, klopft es. Sie haben vor der Tür gewartet, diese Weihnachtsmänner, und wenn die Kinder öffneten, sind sie weggelaufen, damit man sie nicht erkennt. Wir bemühten uns, das merkwürdige Verhalten einleuchtend zu erklären. Es gelang nicht.

Im nächsten Jahr beschlossen wir, dass der Weihnachtsmann doch in die Stube kommen, jedoch die Brille abnehmen und den Kopf nicht heben sollte. Dieser Weihnachtsmann war blind und völlig bewegungsunfähig. Wir setzten ihn neben den Baum und übernahmen seine Aufgaben.

Der Heiligabend wurde immer komplizierter. Schon im letzten Jahr setzten wir unserer Hoffnungen in die Prinzessin. Sie ist das jüngste der Kinder. Sie ist die letzte, die den Schwindel noch glaubt. Sie sollte uns erlösen. Sie war kurz davor. Sie blickte den Weihnachtsmann an der Tür so skeptisch an, dass der grußlos wegrannte, obwohl ein kurzes Winken vereinbart worden war. Wir dachten alle, die Sache ist nun gelaufen. Ein Spaßvogel rief in die dunkle Nacht, in die der Weihnachtsmann geflohen war: Na, Alter, wohl Dreck am Stecken?

Ich hab’s schon immer gewusst, sagt die Prinzessin nun. Sie lügt. Wir hoffen, sie lügt. Abgesehen davon, wissen wir immer noch nicht, wie es weitergehen soll. Das Weihnachtsfest ist Charaktersache, sagt meine Frauenzeitschrift. Ich soll Fragen beantworten, Kreuze machen und die Kreuze zusammenzählen.

Ich bin Typ A: traditionell. Alles muss perfekt sein, steht in der Auflösung, da kennen Sie keine Gnade. Brennen die Kerzen, haben Sie Ihren Auftritt in Jil Sander. Und wirken, o Wunder, völlig entspannt.