Die Schmarotzer

Mistel kommt von Mist. Nicht etymologisch, sondern biologisch. Trotzdem sind die Zweige mit den weißen Beeren zu den Festtagen sehr begehrt. Nicht nur wegen der berühmten Küsse unterm Mistelzweig. Eine vorweihnachtliche Baumbesteigung

von BARBARA BOLLWAHN

Der Frühstückstisch im Haus von Tante und Onkel in einem hübschen Dorf in der Magdeburger Börde ist reich gedeckt. Zwei brennende Adventskerzen signalisieren, dass sich Weihnachten in großen Schritten nähert. Frühstückseiern, natürlich von den eigenen Hühnern, wird der Kopf abgeschlagen, der Wurst die Pelle abzogen, selbst gemachte Marmelade dick aufs Brötchen geschmiert – da klingelt plötzlich das Telefon. Es ist der Nachbar von der anderen Seite der kopfsteingepflasterten Straße. Er hätte sich auch ans Fenster stellen können, um seine weihnachtliche Botschaft zu verkünden. „Ich fahr’ raus ins Naturschutzgebiet. Misteln holen. Kommt ihr mit?“

Die Frühstücksrunde aus Tante, Onkel und einer Cousine und einem Besuch aus Italien überlegt wenige Minuten. Schließlich fällt eine Entscheidung: Alle wollen bei dem schönen Wetter rausfahren und etwas unternehmen. Vor allem, da keiner weiß, ob das Vorhaben überhaupt erlaubt ist.

Anderthalb Stunden nach dem Anruf stehen wir zusammen mit dem Nachbarn, seiner Frau und seinem Vater in einer herrlichen Auenlandschaft an der alten Elbe südlich von Magdeburg. Die Felder von Reif überzogen, der Himmel strahlend blau, Schwäne ziehen hoch oben am Himmel gen Süden, Pferde grasen am Ufer, Angler ziehen silbrig glänzende Fische aus dem Wasser. Doch uns interessiert nur eins: die immergrüne Mistel, die in Auenlandschaft besonders prächtig gedeiht. Die Vorfahrin des Weihnachtsbaumes, die viele Synonyme hat: Immergrüne, Drudenfuß, Hexenkraut, Donnerbesen, Kreuzholz.

Der Nachbar ist Experte. Er erzählt, dass er schon als Kind auf Bäume geklettert ist, um Misteln abzusägen. Und dass er damals ein gutes Taschengeld damit verdient hat. „50 Mark hab’ ich in der Apotheke für einen Sack bekommen!“, schwärmt er. Unterm Arm trägt er einen Fuchsschwanz. Er hat die Säge in ein Stück Stoff eingewickelt. Nicht nur, damit er sich nicht verletzt, sondern auch, damit sie nicht unbedingt jeder sehen kann. Man weiß ja nie. Längst ist er, von Beruf Bildhauer, nicht mehr auf den Taschengeldverdienst angewiesen. Es ist nur einfach langweilig, in einen Blumenladen oder auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen und satte drei Euro für einen kleinen Mistelzweig zu zahlen. Auch die Dekoration bei eBay zu ersteigern erfüllt nicht wirklich. Wir wollen unser Glück selbst versuchen.

Schließlich gilt die Mistel, die vom Verband der Heilkräuterfreunde Deutschlands e.V. zur Heilpflanze des Jahres gewählt wurde, nicht nur als Heilmittel, sondern auch als Glücksbringer. In England werden Mistelzweige zu Weihnachten aufgehängt, und das Mädchen, das von einem Mann darunter angetroffen wird, darf von ihm geküsst werden. Ein Jahr später, so die Legende, sollen die beiden verheiratet sein. Eine komische Vorstellung, wenn man bedenkt, wie die Mistel entsteht.

„Durch Vogelscheiße“, sagt der Nachbar trocken. Misteldrosseln, Amseln, Blau- und Kohlmeisen machen sich im Winter über die weißen erbsengroßen Früchte her, die Samen überstehen die Reise durch ihren Verdauungstrakt unbeschadet, sie werden mit dem Kot ausgeschieden und gelangen so auf die Rinde von Nadel- oder Laubbäumen, wo dann kleine Keime sprießen. Die entziehen dem Baum, ihrem Wirt, die Säfte. Deshalb ist die Mistel ein Schmarotzer. Pro Jahr wächst die Pflanze ein bis zwei Zentimeter. Die Misteln, die es in Geschäften und auf Märkten zu kaufen gibt, haben also locker ein Alter von mindestens zehn Jahren. Der Nachbar weiß nicht nur, auf welchen Bäumen die größten Misteln wachsen, er kennt sich auch bestens in der Geschichte der Gegend aus. Während wir auf einem Feldweg entlanglaufen, klärt er uns auf. „Martin Luther benutzte diesen Weg, als er unterwegs war in Richtung Ulm.“ Beeindruckt schauen wir uns um.

Mit Blick auf weite Felder, Obstbäume mit verschrumpelten Äpfeln und beeindruckende Hecken versuchen wir, uns fünfhundert Jahre zurückzuversetzen. Und siehe da: Es gelingt uns. Denn der Feldweg führt über die Überreste einer Brücke aus dem 15. Jahrhundert. „Das ist die Klusbrücke“, weiß der Nachbar. Jahrhundertelang war der Klusdamm die einzige Möglichkeit für Reisende, die hochwassergefährdete, sumpfige Elbe-Ehle-Aue gefahrlos zu durchqueren. Wir bestaunen den erhalten gebliebenen Bogen der Klusbrücke, entdecken von Bibern angenagte Baumstämme – nur von Misteln keine Spur. Ein einsamer Reiter mit breitkrempigem Cowboyhut überholt uns. Er schickt uns einen Gruß, indem er leicht mit dem Kopf nickt. Unter seinem weiten Mantel schauen Hosen mit Fransen raus. Und dann, auf einmal, in der Ferne, fast kahle Bäume mit vielen Misteln an den Ästen. Wir beschleunigen den Schritt, die Misteln fest im Blick. Die Mistel sieht anders aus und wächst anders als andere Pflanzen. Vielleicht wird ihr deshalb Zauberkraft zugeschrieben.

In der griechischen Mythologie versucht Äneas, mit der „goldenen Zauberrute“ in die Unterwelt einzudringen. Merkur, der Götterbote, öffnete mit einem Mistelzweig die Tore des Hades, wenn er die Toten begleiten musste. Die Druiden, die Priester der Kelten, schnitten Misteln am sechsten Tag nach dem ersten Vollmond für rituelle Handlungen. Und Miraculix, der aus den Asterix-Comics, brauchte die Mistel für seinen Zaubertrank. Jetzt endlich sind sie über uns: Misteln, wohin das Auge blickt. Wir verrenken die Köpfe und schauen in die Baumwipfel. Der Nachbar schüttelt den Kopf. „Viel zu hoch.“

Erst nach einigen hundert Metern ist es dann tatsächlich so weit. „Der hier!“, ruft der Fachmann. Stolz zeigt er auf einen Baum, in dessen unterem Drittel jede Menge Misteln sind. Er zieht seinen Mantel aus, wickelt die Säge aus und schwingt sich behände nach oben.

Schon auf dem ersten Ast kann er die Säge einsetzen. Ritsche-ratsche, ritsche-ratsche, und unter lautem „Ah!“ und „Oh!“ fällt die erste Mistel nach unten. Dann die zweite, die dritte. Wir legen sie nebeneinander auf die Wiese. Wie erlegtes Wild. Vorbei die Zeiten, als weiß gekleidete Druidenpriester mit einer goldenen Sichel die Misteln abschnitten und in einem weißen Tuch auffingen, weil sie glaubten, dass die Pflanze ihre Heilkraft verlöre, sobald sie den Boden berührte.

Auf dem Rückweg trägt jeder von uns eine Mistel unterm Arm, in der Hand oder auf der Schulter. Je nach Größe.

Plötzlich scheint ein böser Zauber auf uns zu fallen. Das schlechte Gewissen. Keiner spricht die Frage aus. Doch sie liegt in der Luft. „Dürfen wir das eigentlich?“ In diesem Moment fällt meinem Onkel ein, dass er den Sack, den er zum Verstauen oder besser Verstecken der Beute mitgenommen hatte, unterm Baum vergessen hat. So können die Spaziergänger, die wir treffen, unsere Beute sehen. Doch die Mistel bringt uns doch noch Glück: Wir bekommen nur anerkennende Blicke zugeworfen.

Es ist der Nachbar, der schon seit seiner Kindheit Misteln von Bäumen holt, der das aufgekommene Schmarotzergefühl vertreibt. Mit einem einzigen Satz. „Was wir hier machen, ist nichts anderes als Brauchtumspflege“, verkündet er. Genau.

BARBARA BOLLWAHN, 39, ist Reporterin der taz. Im Flur ihrer Wohnung hängt ein großer Mistelzweig aus der Magdeburger Auenlandschaft. Nach telefonischer Rückfrage beim Naturschutzbund ist ihr Gewissen beruhigt: In Sachsen-Anhalt steht die Mistel nicht unter Naturschutz