„Ich bin ein Vertreter des Elitismus“

Politisch unkorrekt: Der argentinische Schriftsteller César Aira wird als kommender Nobelpreisträger gehandelt. Im taz-Gespräch äußert sich der existenzialistische Underdog über Borges, Sportstudios und den Kulturbetrieb: Gute Bücher warten auf einen, man muss aber selbst auf die Suche gehen

INTERVIEW EVA-CHRISTINA MEIER
UND ANDREAS FANIZADEH

taz: Herr Aira, in einem Ihrer eher seltenen Interviews haben Sie der chilenischen Zeitschrift „La Calabaza del Diablo“ kürzlich gesagt: „Ich habe keinerlei Sympathie für das, was sich Populärkultur nennt.“ Nun sind Sie bei jüngeren und subkulturell orientierten Lesern und Leserinnen in Argentinien einer der populärsten Autoren. Wie ist das zu verstehen?

César Aira: Das war eine leicht provokative Antwort, aber auch ein Votum für die Hochkultur. Ich vertrete die Ansicht, dass die Freiheit durch die Populärkultur bedroht wird – gewisse Dinge werden heute geradezu zwanghaft obligatorisch. Zum Beispiel das Mobiltelefon: Zunächst war es ein nützliches Utensil, dann wurde es zu einer zwanghaften Notwendigkeit, und heute ist der Besitz einfach obligatorisch. Es gibt Nationalparks, in die man die Leute ohne ein Mobiltelefon nicht hineinlässt. Fernsehen ist obligatorisch: Die Kinder einer Familie in Argentinien, die keinen Fernseher besitzt, können sich angeblich in das schulische Leben nicht einfügen, weil die Kleinen ihre Schulkameraden nicht verstehen. Die Sprache nicht und auch die Spiele nicht. Die Populärkultur wird zum Symbol all dessen, was obligatorisch wird.

Hingegen Johann Sebastian Bach, der ist nicht obligatorisch. Bach ist frei. Will ich Bach hören, muss ich eine Aufnahme suchen und manchmal muss ich sehr danach suchen. Und um die Musik zu verstehen, muss ich mich anstrengen. Über diese Hochkultur öffnet sich ein Weg in die Freiheit. Mein Verhältnis zur Populärkultur ist eher dialektisch. Ich beziehe mich bei meiner Arbeit ständig auf die Populärkultur. Aber dabei geht es mir um eine Transformation, die auch die Hochkultur verändert.

Geht es deshalb darum, den Zugang zur Hochkultur zu erleichtern, zum Beispiel für jüngere Leser?

Nein, man sollte nichts vereinfachen oder leichter machen. Wenn Sie so wollen, bin ich ein Vertreter des Elitismus. Elitismus muss nichts Schlechtes sein.

Meinen Sie Elitismus oder Avantgarde?

Avantgarde ist eine andere Sache, die mich auch sehr interessiert. Ich spreche aber von Elitismus als etwas Anspruchsvollem, darüber, was eine Arbeit tatsächlich kostet, von etwas Besonderem und Luxuriösem. Das erscheint mir gut. Ich bin kein Anhänger der „Verelendungstheorien“, nach denen die gute authentische Kunst aus den schlechten Lebensbedingungen entwächst. Oder dass die Armen gut sind, nur weil sie arm sind. Das ist genauso wenig der Fall wie das Gegenteil. Ich fände es aber sehr viel besser, die Armen wären reich.

Auf Deutsch liegen mit „Die Mestizin“ und „Humboldts Schatten“ zwei historisch orientierte Romane vor. Sind sie repräsentativ für Ihr Werk?

Nein! Es sind meine einzigen Romane, die in der Geschichte spielen.

Womit beschäftigen sich Ihre Erzählungen in der Regel?

Sie handeln eher von der Gegenwart, die ich improvisiere.

Ihre letzte Veröffentlichung in Argentinien ist „La Noche de Flores“ …

Flores heißt mein Stadtteil in Buenos Aires, der Roman verdankt sich einer seiner Charakteristika: Es gibt kaum gute Restaurants. Meine Frau und ich ärgern uns sehr darüber. Ich weiß nicht, warum das so ist. Stattdessen gibt es Pizzerien mit Lieferservice, den diese Jungs auf ihren Mofas erledigen. Seit Jahren beobachte ich mit Neugier diese Jungs, sie sind oft nicht älter als 14 oder 15 Jahre. Schüler, die nachts arbeiten. Sie fahren unglaublich riskant; immer gegen die Fahrtrichtung, benutzen keine Helme, und ihre Mofas sind dauernd kaputt, haben kein Licht. Mir erschien das poetisch: eine Art Kinderarmee, die in die Nacht hinauszieht, um Pizza oder Eis zu verteilen. Die Leute lassen sich auch sehr viel Eis nach Hause liefern. Die Mehrzahl meiner Bücher sind Hommagen an inspirierende Dinge meiner Umgebung. Ich schrieb auch einige Romane über das Sportstudio. Ich gehe selber täglich dorthin – es ist ein Ort, der mir gefällt. Viele meiner Romane kann man als Hommage verstehen: „La Noche de Flores“ ist ein Denkmal für diese Kinder, die in die Nacht ziehen, um Pizza auszufahren.

Ihr Roman „Die Mestizin“ erinnert in seinen utopischen Momenten an das mittelalterliche Märchen vom „Schlaraffenland“. Müßiggang und Genuss spielen eine zentrale Rolle. Es regnet Fasane vom Himmel, zugleich hält aber die moderne Zucht- und Reproduktionstechnologie gegen Ende Ihres Romans abrupt und mit ziemlicher Brutalität Einzug. Sie stellten diese Erzählung 1978, während der Diktatur, fertig. Welche Bedeutung hat der Zeitbezug für Ihr damaliges Schaffen?

Als ich 1972 aus dem Gefängnis kam, habe ich mich komplett von der Politik verabschiedet. Ich zog mich vollständig zurück – endgültig, auf eine fast gewaltsame Art und Weise. Ich beschloss, mein eigenes Leben, mein eigenes Glück wichtiger zu finden als irgendein entferntes Versprechen. Ich tat dies gegen die allgemeine Tendenz damals. Und dieser Roman ist wie andere meiner Erzählungen auch aufrichtig unpolitisch, antipolitisch. Darüber habe ich nicht lange nachgedacht. Ich vollzog diesen Bruch und wurde egoistisch, schlecht und politisch unkorrekt.

Bei einer Lesung in Berlin beantworteten Sie vor wenigen Tagen eine Frage mit einem metaphernreichen Mao-Zitat. Wie würden Sie sich heute politisch verorten?

In der Indifferenz und dem Skeptizismus.

Da erstaunt es aber, dass Sie in „Die Mestizin“ das Bild einer utopischen Gesellschaft entwerfen – die Menschen arbeiten kaum. Sie rauchen, trinken, verbringen viel Zeit miteinander, Frauen können dominieren. Essen finden sie vor ihrer Nase …

In Argentinien gibt es die Erzähltradition der cautiva – der Gefangenen, die von Indianern verschleppt wird, um sie in ihren Stämmen als Arbeitssklavin oder Reproduzentin zu halten. All diese Geschichten über die cautivas strotzen vor Unglück und Elend.

Ich machte einfach eine Umkehrung, um zu zeigen, wie Geschichtsschreibung und Literatur die Welt beeinflussen kann. Ich wollte die Welt auf den Kopf stellen, eine glückliche Gefangene darstellen, die unglücklich in einer „zivilisierten“ Welt lebt und erst, als sie in die Welt der „Wilden“ gerät, glücklich wird. Ich war damals noch sehr jung. Mit der Distanz von heute hat der Roman schon fast etwas Karikaturhaftes.

Sie geben Jorge Luis Borges gern als Ihr literarisches Vorbild an. Kann man sich so ungebrochen positiv auf einen argentinischen Nationalschriftsteller beziehen, der große Mühe hatte, sich von den südamerikanischen Militärmachthabern abzugrenzen?

Man wirft Borges vor, dass er sich mit Augusto Pinochet getroffen und dem chilenischen Diktator die Hand geschüttelt hat. Aber unmittelbar danach sagte er einen Satz, der – wie ich finde – die Situation verändert. Er sagte: „Ich liebe Chile, weil Chile ein Land ist, das die Form eines Degens hat.“ Das Literarische dieses Satzes führt dazu, dass die Realität – Borges gibt Pinochet die Hand – vom Lack der Literatur bedeckt wird, der alles von Borges hatte. Der Mann hat sein ganzes Leben in einer Bibliothek verbracht! Deswegen scheint mir, dass diese literarische Drehung, die er seiner ganzen biografischen Realität gibt, ihn freikauft.

Welche Bedeutung hat Literatur für die heutige argentinische Kultur?

Ich glaube, dass die Literatur immer eine minoritäre Angelegenheit gewesen ist und sein wird. Bücher besitzen eine wunderbare Höflichkeit. Sie warten auf die Leute. Das Buch ist da, wartet und schweigt. Es macht nicht dieses Geschrei, von dem wir umgeben sind. Das Buch steht schweigend da, und ich finde, so soll es sein. Ein Buch muss man suchen gehen. Wer es finden will, findet es. Wer nicht, eben nicht. Literatur nützt zu gar nichts, außer um etwas über Literatur zu erfahren. Umso weniger, minoritärer, wir sind, die die Literatur praktizieren, umso mehr Freiheit werden wir haben. Je weniger Macht und Einfluss wir auf die Gesellschaft haben, umso mehr werden sie uns in Frieden lassen.

Haben Sie eine Vorstellung von Ihrem Publikum?

Es sind Leute, die sich nicht nur für Literatur, sondern auch für die Mechanismen, mit denen Literatur gemacht wird, interessieren. Mir würde es besser gefallen, ein „normales“ Publikum zu erreichen. Aber nein, es sind Professoren, Akademiker. Vor kurzem traf ich einen Jugendfreund. Er erzählte mir, dass seine Schwester eine begeisterte Leserin meiner Bücher sei. Bei dem Gedanken an seine Schwester war ich ganz zufrieden, eine Dame aus dem Viertel, die meine Bücher las. Doch sofort sagte er mir: „Meine Schwester ist Professorin für Literatur.“

Gegenwärtig hat sich die Struktur des Marktes in Argentinien sehr verändert. Die Preise für Bücher haben stark angezogen. Auch die, die wollen, können sich teilweise keine Bücher mehr leisten.

Nein. Das ist eine Frage der Priorität. Ein Fernseher kostet so viel wie 500 Bücher. Und in den Armenvierteln gibt es in jedem Häuschen einen Fernseher.

Neben Büchern in etablierten Verlagen veröffentlichen Sie auch Schriften in kleinen Projekten wie Eloisa Cartonera. Warum?

Weil mir diese kleinen Verlage gefallen. Ich unterstütze sie und bin bei Beatriz Viterbo in Rosario oder Eloisa Cartonera in Buenos Aires einer der gängigsten Autoren. Vor allem: Ich kann schreiben, wie ich will – und das ist wichtig. In einem großen Verlagshaus denkt man an die Folgen, fordert einen ausgefeilten Stil. Aber ich möchte mich in die andere Richtung entwickeln, um zu einer tatsächlichen Unkultiviertheit zu gelangen.

Aber in dem Versuch solch eines Miniverlags wie Eloisa Cartonera, der aus Abfall Bücher herstellt und gute Literatur populär verpackt, kann man doch das Bestreben erkennen, Literatur zu ihren Lesern zu bringen – oder nicht? Die Bücher von Eloisa Cartonera warten nicht.

Doch, Bücher warten immer. Eloisa Cartonera ist ein besonders ausgefeilter und elitärer Verlag – vielleicht sogar der ausgefeilteste und elitärste Verlag überhaupt. Der Verlag und auch wir Autoren wurden kritisiert, dass wir Souvenirs des Elends und der Krise herstellten und gedankenlos handelten. Aber diese Fragen der politischen Korrektheit haben mir nie viel bedeutet, sie sind in erster Linie lähmend. Man debattiert darüber, etwas zu tun oder nicht zu tun, und endet zumeist damit, nichts zu tun.

„Die Mestizin“. Aus dem Spanischen von Michaela Messner und Matthias Strobel. Nagel & Kimche 2004, 14,90 €; „Humboldts Schatten“. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel, Nagel & Kimche 2003, 19,90 €