Die Geburt der Schurkenstaaten

Wenn die USA ABC-Waffen in falschen Händen vermuten, sehen sie sich zum Angriff berechtigt. Nato und Europa lassen sich in diese Strategie einbinden

VON ERIC CHAUVISTRÉ

Der Tag war so gut gewählt wie der Ort: Es war Pearl Harbor Day, der lange vor dem 11. September für die Verwundbarkeit der USA stand, in der National Academy of Sciences in Washington, Versammlungsort der wissenschaftlichen und technologischen Elite der Vereinigten Staaten. Der US-Verteidigungsminister hielt eine historische Rede. Von einer „neuen Ära“ sprach der Pentagon-Chef, warnte vor Atomwaffen in den Händen von „Schurkenstaaten“ und „Terrorgruppen“. Und er forderte, dass die US-Streitkräfte fortan in der Lage sein müssten, sich auch gegen atomar bewaffnete Gegner militärisch zu schützen.

Drei Monate zuvor hatte der US-Präsident schon vor der UN-Vollversammlung verkündet: „Wenn wir die Verbreitung der tödlichsten Waffen der Welt nicht bändigen, kann sich keine Demokratie der Welt sicher fühlen.“

Der Präsident, der die Demokratien der Welt zum Kampf gegen die Verbreitung, also Proliferation von atomaren, biologischen und chemischen Waffen, aufrief, hieß nicht George W. Bush – sondern Bill Clinton. Und der Verteidigungsminister, der hier „Schurkenstaaten“ zum neuen Feind der USA erklärte, war nicht der redegewandte Haudegen namens Donald Rumsfeld – sondern der sachlich-kühl auftretende Les Aspin.

Am 7. Dezember 1993 also tauchte erstmals offiziell und öffentlich der neue Begriff „Counterproliferation“ auf (s. Kasten). Insbesondere gegnerische Atomwaffen sollten nach dieser Strategie den US-Streitkräften zu einer neuen Mission nach dem Ende des Kalten Krieges verhelfen. Das US-Militär müsse lernen, so der Verteidigungsminister, angesichts der neuen Lage „Kriege anders zu führen“. Wenn nötig, sollten Versuche, sich ABC-Waffen zu beschaffen, auch gewaltsam verhindert werden.

Zur Counterproliferation gehört unweigerlich das Gerede von den „Schurkenstaaten“, die Aufteilung in gute und böse, legitime und illegitime Waffenbesitzer. Denn einige neue Atommächte, dauerhafte oder zeitweilige Verbündete der USA, stehen selbstverständlich nicht auf der Zielliste: Israel nicht, aber eben auch nicht Indien oder das derzeit für die USA so wichtige Pakistan. Atomwaffen scheinen nur dann ein Problem zu sein, wenn sie US-Interventionen im Wege stehen. Mit den Mitteln der Counterproliferation soll diese militärische Bewegungsfreiheit gesichert werden.

Erfolgreich waren die Verfechter der Counterproliferation auch mit der Einbindung der Verbündeten in das Konzept. Nach anfänglicher Zurückhaltung übernahmen die europäischen Nato-Regierungen die Ziele der Counterproliferation, auch wenn sie den aggressiv klingenden Begriff bis heute möglichst vermeiden. Schon im Juni 1994, sechs Monate nach Aspins Rede, beschloss die Nato den Aufbau „militärischer Fähigkeiten“, um „Territorium, Bevölkerung und Truppen der Nato gegen ABC-Waffen-Einsatz zu schützen“. 1999 legte die Nato in ihrem „Strategischen Konzept“ fest, dass „Einsatzgrundsätze und Planungsverfahren“ der Nato-Truppen darauf ausgerichtet sein sollen, sich auch gegen ABC-Waffen zu verteidigen. Als Folge wird im Brüsseler Hauptquartier der Allianz zurzeit an einem Konzept für eine eigene Raketenabwehr gefeilt.

Die größte Annäherung an das US-Konzept der Counterproliferation machten im Juni dieses Jahres ausgerechnet die Außenminister der EU. Kaum drei Monate nach Beginn des mit Counterproliferation begründeten Angriffs auf den Irak einigten sich die europäischen Chefdiplomaten darauf, dass sie Gewalt gegen Besitzer von ABC-Waffen im Zweifelsfall für zulässig halten.

Trotz des Desasters im Irak wird auch in der US-Regierung nicht daran gedacht, von den Grundsätzen der Counterproliferation und der damit verbundenen Präemptivstrategie abzurücken. Rechtzeitig zum 10. Jahrestag von Aspins Counterproliferation-Rede legte ein einflussreiches Mitglied der Bush-Regierung sogar noch einmal nach. „Schurkenstaaten wie Iran, Nordkorea, Syrien, Libyen und Kuba, die den USA mit ihrem Streben nach Massenvernichtungswaffen feindlich gesinnt sind, werden merken, dass ihre verdeckten Programme der Entdeckung und den Konsequenzen nicht entgehen“, sagte John Bolton, Staatssekretär im Außenministerium und Stellvertreter Colin Powells, Anfang dieser Woche. Der Irakkrieg sei eine „Lektion“ gewesen, meint Bolton: nicht etwa für die USA, sondern für die anderen Staaten auf der aktuellen Washingtoner Schurkenliste.