Vorlesung wird Randerscheinung

Die Lawine rollt: Immer mehr Studierende beteiligen sich an den Protesten gegen Studiengebühren mit Aktionen in der City und demnächst in der Weser. An der Uni wird alles vorbereitet. Ein Lagebericht mit Reaktionen von Rektor und Senator

Bremen taz ■ Nieselregen, Kälte, schmuddeliges Dezembergrau. Genau das richtige Wetter, um einen Badetag im Freien zu planen. „Weser ist viel besser als Werdersee“, meint einer. Im naturwissenschaftlichen Gebäude der Uni Bremen diskutieren rund 40 StudentInnen der Biologie darüber, wie man die Proteste gegen Studiengebühren ausweiten kann. Es herrscht Betriebsamkeit. Auf dem Fußboden Menschen, die an Plakaten schnipseln, auf den Tischen Kekstüten, umgefallene Kaffekannen, Stifte, angebissene Äpfel, Flugzettel, Farb-Flaschen. An den Wänden Bögen mit geplanten Aktionen, Telefonnummern von Verantwortlichen. Vor der Tür eine lange Wäscheleine, an der T-Shirts mit der Aufschrift „Mein letztes Hemd“ hängen. Man einigt sich darauf, dass die Bildung am Donnerstag in der Weser „baden gehen“ soll. Doch die Einigkeit täuscht.

„Heute Morgen hatten wir Stress mit unseren eigenen Leuten“, meint Helen Kellinghaus (24), die Bio und Deutsch studiert. „Einige wollten trotz Streiks unbedingt eine Klausur schreiben.“ Die Angst davor, ein ganzes Semester zu verlieren, lässt viele zu ‚Streikbrechern‘ werden. Bei den Juristen werden prüfungsrelevante Vorlesungen wie gewohnt gehalten. „Viele Professoren stellen den Lehrstoff ins Internet und verlangen, dass die Studenten ihn zuhause nacharbeiten“, sagt Winnie Abraham von der Pressestelle der Uni. Jura-Student Anatol Anuschewski (23), der im Streikbüro versucht, alle Aktionen zu koordinieren, hält den normalen Vorlesungsbetrieb für eine „Randerscheinung“. Die Kritik von studentischer Seite beziehe sich niemals auf den Protest an sich, meint er.

Scheinbare Rückendeckung erhielten die Studenten gestern von der Unileitung. Das Rektorat teilte mit, dass es Studiengebühren für Langzeitstudenten ablehne. An Gebühren für Sprachkurse halte man jedoch fest, lediglich obligatorische Kurse seien auch weiterhin kostenlos. Auch die Erhebung einer Verwaltungsgebühr von 50 Euro befürwortet die Unileitung – zumal der Bildungssenator gestern betonte, dass diese direkt den Hochschulen zugute komme.

Als „enttäuschend“ bezeichnete Thilo Scholz vom AStA-Vorstand die Stellungnahme. „Die Uni-Leitung hat nicht nur akzeptiert, dass Haushaltskürzungen auf Kosten der Studierenden kompensiert werden sollen, sondern springt auf den Gebührenzug selbst mit auf.“

Wie jeden Tag versammeln sich die Streikwilligen um Zwölf im geisteswissenschaftlichen Gebäude. Mehr als 300 Leute drängen sich im Treppenhaus. Nacheinander berichten StudentInnen aller Fachbereiche von Lichterketten, Vorlesungen in der Straßenbahn, umgedichteten Werder-Liedern und Weihnachtssingen auf den Domtreppen. Die Stimmung ist blendend. Die Kulturwissenschaftler haben im ersten Stock des SFG „alles unter Kontrolle“. Es werden noch Nikoläuse gesucht, die auf dem Weihnachtsmarkt Kekse verteilen. Die BiologInnen suchen nach Badewilligen. Ein Psychologie-Student verkündet, ihre Studiengangsleitung habe sich solidarisch erklärt und bekanntgegeben, dass den Studenten durch streikbedingte Ausfälle keine Nachteile erwachsen würden. Jubel im Treppenhaus.

Zum Schluss bemängelt ein Sportstudent die Streikmoral der Geisteswissenschaftler. Solidarität sei ein schönes Wort, aber wenn man eine Streikparty mit hunderten von Leuten mache, dann solle man doch am Morgen „auch bitte schön aus dem Bett kommen“. Daniel Schalz