„Ich fordere, beharre, bleibe bei meiner Meinung! Ich insistiere, opponiere, kritisiere!“

Horst Seehofer, so genannter Querulant der CSU, parkt seit gestern im politischen Abseits. Was aber macht einen Menschen zu einem echten Querulanten? Und was treibt ihn in die Querulanz? Eine Phänomenologie

Nach 1968 durfte sich jede Flachpfeifeals „Querdenker“ bezeichnen

VON HELMUT HÖGE

„Ich queruliere, quengle, betreibe boshaft oder krankhaft Prozesse, mache wiederholt unbegründete Eingaben.“ (Brockhaus 1941)

Die deutsche Nachkriegsentwicklung des Querulanten verläuft vom (rechten) Privatpartisanen über den Querdenker zum Prozessierer. In anderen Ländern, wie in den USA, gibt es nicht einmal ein Wort für Querulanz. Dort kennt man höchstens noch in jüdischen Gemeinden den „Kwetscher“: jemand, der hartnäckig seine Interessen vertritt. Auch im Sozialismus brachte man den Querulanten Sympathien entgegen – sofern sie sich mit ihren Eingaben systemkonform an den Staat wandten. In der DDR waren die Behörden sogar gesetzlich verpflichtet, sie fristgemäß zu beantworten, wobei 25 Prozent positiv entschieden wurden (in der BRD waren und sind es nur 5 Prozent). Dafür werden inzwischen, wie eine Forschungsgruppe der Uni Bremen ermittelte, über 75 Prozent aller höchstrichterlichen Entscheidungen von Querulanten erwirkt.

Schon mit dem deutschen Partisanenbegriff (von Schmitt, Jünger und Schroers) wurde in den 50er-Jahren auf einen gegen den US-Mainstream schwimmenden Einzeldenker abgehoben, der sich vor allem in seinen Schriftsätzen bockig zeigte. Erst recht galt das dann für den darauffolgenden „Querdenker“, als den sich nach 1968 jede staatstragende Flachpfeife bezeichnen durfte. Dies hat insofern seine Berechtigung, als schon der Begriff der Querulanz sich aus dem (normannischen) Rechtswesen herleitet („Querela levis“ war darin eine Klage, „die nicht viel uff sich hat“) – also recht besehen ein reiner Staatsbegriff ist. Neuerdings hat man sogar den Staatsbühnenautor Heiner Müller und den Kunstprofessor Joseph Beuys als „Partisanen der Utopie“ bezeichnet.

Gleichzeitig haben sich aber auch die quasi anonymen Querulanten enorm vermehrt! Zumindest im Osten sind es nicht selten Rechte – autodidaktische Arbeiter – mit tiefer Staatsverdrossenheit. Aber die darob Vereinsamten nehmen auch im Westen zu: Nur sind sie hier eher verzagt als voller Wut. Die Parteien und Zeitungen bekommen immer mehr „Querulanz-Briefe“. Nicht wenige stammen von älteren Vielschreibern, die von links bis rechts alle möglichen Regierungschefs im In- und Ausland kritisieren. Aber auch eine zunehmende Zahl von „Stimmenhörern“ wendet sich zuerst an den Staat: Insofern fremde Sender ihnen direkt ins Gehirn funken, die deswegen vom BKA aufgespürt und ausgeschaltet werden müssen. Als besonders hellhörig galt der berühmte Westberliner „Sendermann“, indem er nächtens an alle Mauern schrieb: „Der Senat foltert mit getexteten Reden“. Es wurde daraufhin tatsächlich öfter frei geredet – nicht nur im Senat. Deren Querulatorik besteht darin, dass sie darauf bestehen: Da draußen existiert ein realer Feindsender, der ihnen Befehle gibt. Sie können sich dabei auf US-Experten wie Burroughs und Pynchon berufen, für die ein Paranoiker jemand ist, „der alle Fakten kennt“.

Im wachsenden Heer der Querulanten befinden sich wenig Frauen – vielleicht weil sie anpassungsbereiter und im Hinblick auf die nun gefragten kommunikativen Fähigkeiten wie „soziale“ und „emotionale Intelligenz“ besser qualifiziert sind. Aber unter den Paranoikern, die sich zum Beispiel an die taz wenden, gibt es auch zwei Frauen: Während die eine sich eher bieder-religiös abstrampelt und schreibt, schwingt die andere sich gelegentlich zu genialen poetischen Mitteilungen auf: „Nazi-Fälle“ von ihr genannt. Für alle Querulanten gilt jedoch: Je länger man sich mit ihnen beschäftigt, desto mehr schätzt man sie – um schließlich fast jeden Briefeschreiber als Querulanten einzuschätzen, womit der Begriff vollends seine Bedeutung verliert. Was bleibt, sind nur die Grade der Querulanz: gemessen an der Länge und Häufigkeit der Mails bzw. ihrer Penetranz.

Das „Querulanten-Projekt“ von Dr. Richard Herding im Haus der Demokratie unterscheidet zwischen Meinungs- und Interessens-Querulanz, wobei nur die Letzteren von ihm „pressewirksam“ betreut werden. Das kann ein Türke im Taunus sein, der abgeschoben werden soll – und dem nicht einmal „Bild kämpft für Sie“ helfen will, aber auch ein Lehrer im Hunsrück, der bisher vergeblich gegen die Behörden, die ihm seine Nebenerwerbslandwirtschaft verbieten, kämpfte. Solche Fälle, die laut Dr. Herding „für die meisten Anwälte, Pfarrer, Sozialarbeiter und den Rest der Helferwelt eher marginal sind“, werden als Interessens-Querulanz bezeichnet.

Wohingegen ein Meinungs-Querulant jemand ist, der zum Beispiel einfach nicht einsehen will, dass es keine bessere Welt als die jetzige gibt. So jemand wird von Dr. Herding und seinen Leuten nicht betreut, denn dann wären wir ja alle Querulanten – „auch die Kommunisten sind derart uneinsichtig“. Die DDR-Intellektuellenzeitung Der Sonntag warb in der Wende gar mit dem Spruch: „Das Blatt für Querulanten“. Für die Kommunisten waren die Knäste und Lager immer die Orte, wo sich die Spreu vom Weizen trennte – ihre Hochschulen quasi. So ist es nicht verwunderlich, dass heute trotz der Dominanz der Rechten dort die meiste Post aus Gefängnissen und geschlossenen Anstalten kommt. Auch darin wird die staatliche Repression, „Folter“ gar, verbunden noch mit einem kafkaesken Verlorenheitsgefühl, beklagt. Wobei die „Unschuld“ der Betroffenen oft mangels Ausdruckskraft nur gleichsam metaphorisch durchscheint.

Aber täglich geschieht so vielen Unrecht, dass man sich andersherum auch wieder wundern könnte, wie wenig davon bis zur taz durchsickert, die sich immerhin einmal als „Projekt Gegenöffentlichkeit“ verstand. Dieses hat jedoch inzwischen ganz andere Verfechter gefunden: einen Beamten im Charlottenburger Sozialamt zum Beispiel, der sein Amt für den größten Querulanten hält, weil es ständig prozessiert, ohne auf die Kosten achten zu müssen. Deswegen unterstützt er alle seine querulatorischen Gegenspieler – u. a. damit, dass er ihnen Briefpapier für ihre langen Schriftsätze spendiert. So weit ist es mit dem deutschen Sonderweg seit 1945 gekommen! Während der Nazizeit kamen die Querulanten noch ins KZ, in Goethes Weimar wurde bereits das bloße Abfassen von bäuerlichen Fron-Beschwerden mit Gefängnis bestraft.

In England hat man dagegen über lange Zeit den „Exzentriker“ kultiviert, der „opponiert, wo er geht und steht“, wie Katharina Rutschky meint, die einen Zusammenhang sieht zwischen dessen Genialität und den vielen englischen Erfindungen. In der Tat sind auch die deutschen Erfinder inzwischen alle Querulanten: Einer der gefürchtetsten war ab 1988 ein Herr Ritter, der mit einer Erfindung zur seriellen Herstellung von Maßschuhen reüssieren wollte – und nicht nachließ. Noch heute verleugnen sich etliche tazler, wenn „der Ritter aus Spandau“ mal wieder anruft. „Häufig schlagen solche Fälle ja früher oder später sich selbst und ihren Helfern ins Gesicht“, meint Dr. Herding. Man nennt sie deswegen auch die „Unbedingten“.

In Russland hat man versucht, sie mit der Intelligenzija zu einem Revolutionär neuen Typs zu verschmelzen. Das war im Kollektiv gedacht, hier gibt es ihn dagegen nur als Einzelkämpfer. Etwa den „Justiz-Querulanten“, einen Prozessbeobachter, Oskar Walther: Er geht zu Gerichtsverhandlungen und kritisiert anschließend deren Wahrheitsfindung. Aber die Justizbehörden wollen einfach nicht auf ihn hören. Für Dr. Herding wäre das ein typischer Fall von Meinungs-Querulanz – auf beiden Seiten!