Protest gegen Mainstream im Radio: Bürgerradio wird Dudelfunk

In Hannover verabschiedet der Bürgerfunksender LeineHertz 106einhalb seine alternative Restidentität und setzt auf Quote. Dagegen formiert sich Protest.

Kritiker der neuen Linie: Festivalveranstalter und Clubbetreiber Heiko Heybey (am Mikrofon), rechts LeineHertz-Musikredakteur Oliver Müller. Bild: Benjamin Laufer

HANNOVER taz | Eros Ramazzotti, Simply Red und Lena Meyer Landrut quälen sich über den Äther, dicht gefolgt von Tina Turner. Seit dem 19. Januar ist bei Hannovers Bürgerfunksender LeineHertz 106einhalb "alles anders".

So hatte es der Sender versprochen. Ein "völlig neues Klangbild" erwartet nun die HörerInnen, nämlich die angeblich "besten Songs" seit den 1960ern.

Damit verabschiedet sich der Bürgerfunksender vom alternativen Rest-Flair, das ihm nach dem Ende des Vorgängersenders Radio Flora geblieben war. Alternative Musik wird in die Abendstunden verdrängt.

Bei zahlreichen Kulturschaffenden stößt diese Umstellung auf Unverständnis. "Eigentlich fand der Hörer es besonders gut, dass die Musik nicht so war wie auf den anderen Sendern", sagte Festivalveranstalter Heiko Heybey bei einer Podiumsdiskussion im Kulturzentrum Faust.

Gegen den Richtungswechsel haben sich VeranstalterInnen und MusikerInnen zur Initiative "Was ist Bürgerradio" zusammengeschlossen.

In einer "Petition für ein echtes Bürgerradio" fordert sie einen ergebnisoffenen Dialog. Es gehe dabei ausdrücklich nicht um eine bestimmte Musikrichtung, sondern um den Erhalt einer "kulturell anspruchsvollen Vielfalt".

Die Hauptaufgabe des Bürgerfunks ist es, den BürgerInnen freien Zugang zum Äther zu gewährleisten.

Rund 150 Bürgersender gibt es in Deutschland, darunter freie Radios, Offene Kanäle und Bürgerfunksender.

Bis zu 30.000 Ehrenamtliche produzieren täglich etwa 1.500 Programmstunden.

Mehr als 1,5 Millionen Menschen konsumieren täglich ein Bürgermedium.

Jedes Bundesland hat eigene Formvorgaben für die Sender.

Das niedersächsische Sondermodell "Bürgerrundfunk" sieht eine professionelle Redaktion vor, der eine "publizistische Ergänzungsfunktion" zukommt.

Das neue niedersächsische Landesmediengesetz erlaubt seit Jahresanfang auch kommerziellen Lokalfunk.

Viele Bürgerfunker befürchten darum einen zunehmenden Konkurrenzdruck.

Für LeineHertz-Gesellschafter Johannes Janke sind das nur die Ansichten eines kleinen Teils der HörerInnenschaft. "Wir senden aber nicht nur für ein, zwei Stadtteile", sagt er.

Der Auftrag des Senders sei es, möglichst viele HörerInnen zu erreichen. "Wir versuchen, die Musik so zu gestalten, dass niemand abschaltet", erklärt Mitgesellschafter Hans-Christof Vetter.

Mit den aktuellen Debatten setzt sich ein jahrelanger Richtungsstreit in Hannovers Bürgerfunkszene fort. Das linksalternative "Radio Flora" hatte im Frühjahr 2009 die Sendelizenz verloren, LeineHertz rückte nach.

Die Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) begründete den Lizenzentzug von Radio Flora mit den niedrigen Einschaltquoten. Seither sendet Radio Flora nur noch eingeschränkt über das Internet.

Zu den Kritikern der neuen Linie bei LeineHertz gehören auch Redakteure des Senders.

Ihm gehe es nicht nur um seine eigenen Sendungen, sagte etwa Musikredakteur Oliver Müller auf dem Podium im Faust. "Es geht mir um das Medium Bürgerradio: es wird gegen die Wand gefahren!"

Auch der Führungsstil der Senderspitze stößt hausintern auf Kritik. "Wir fühlen uns im Sender wie Fremdkörper", sagt der ehrenamtliche Kulturredakteur Stephan Rykena.

Er vermisst bei LeineHertz, das kein Verein, sondern eine gemeinnützige GmbH ist, "den Geist eines Bürgerradios". Entscheidungen würden hierarchisch und nicht basisdemokratisch getroffen.

Die Debatte um das neue Auftreten des Bürgerfunksenders hat auch den Landtag erreicht. "Was bei diesem Sender passiert, lässt sich als eine Art vorauseilender Gehorsam beim Kulturabbau begreifen", sagt Kreszentia Flauger von der Linksfraktion.

Von einer "beklagenswerten kulturellen Verarmung" spricht der Grünen-Abgeordnete Enno Hagenah. Die CDU begrüßte die Änderungen und geißelte die Senderschelte als "Eingriff in die Pressefreiheit".

Laut niedersächsischem Mediengesetz sollen Bürgerradios für eine "publizistische Ergänzung" des kommerziellen Angebots sorgen. Deswegen bekommen sie Zuschüsse vom Land. Die Frage ist nur, ob zur publizistischen auch die musikalische Vielfalt gehört.

"Musik ist keine Publizistik", meint LeineHertz-Gesellschafter Vetter. "Musik ist auch eine Möglichkeit, publizistisch zu ergänzen", sagt hingegen der Vorsitzende des Bundesverbands Bürgermedien, Georg May. Ursprünglich sei es bei der Einführung von Bürgerfunk allerdings vor allem darum gegangen, den Meinungsmonopolen der großen Verlagshäuser etwas entgegenzusetzen.

Dass Bürgerradios sich zunehmend auch an den Einschaltquoten orientieren, kann May nachvollziehen. "Es wäre blauäugig zu sagen, Quote spiele keine Rolle.

"Zwar steht es nicht in den Gesetzen, aber die Medienanstalten wünschen sich "Hörerakzeptanz". Wie in Hannover wurden auch anderswo Sender geschlossen, weil die Einschaltquoten zu gering waren.

Bereits 2003 fiel dieser Logik der Offene Kanal Hamburg zum Opfer. Auch in Nordrhein-Westfalen sind viele Bürgerfunk-Gruppen, die dort Sendefenster im kommerziellen Rundfunk haben, faktisch abgewickelt. Derzeit bangen in Sachsen mehrere freie Radios um ihre Zukunft.

Den Sendern werden die Fördermittel gestrichen, oder ihnen wird gleich die Lizenz entzogen. Mit der Konsequenz, dass immer mehr von ihnen glauben, sich anpassen zu müssen.

Die Diskussionen in Hannover laufen weiter, am Donnerstag ist das nächste Gespräch zwischen Senderspitze und KritikerInnen anberaumt - auf Wunsch des Senders hinter verschlossenen Türen.

"Es ist aus unserer Sicht alles gesagt worden", meint Gesellschafter Janke. Für ihn ist die Umstellung erst einmal ein Experiment. Janke: "Das kann sich auch wieder ändern."

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