Denker an die Front!

Liberaler Selbsthass: Unsere Leitartikler und Kommentatoren werfen sich in Heldenpose. In ihrer derzeit allfälligen Rede von der „falschen Toleranz“ schwingt ein Groll mit, der sich lange aufgestaut hat. Ab jetzt aber wird ganz fest hingeschaut! Eine Presseschau nach dem Mord an Theo van Gogh

VON ROBERT MISIK

Irgendwann, der Verputz in den Kinderläden war längst blättrig geworden, wurde auch die freie Reformpädagogik mit viel Tamtam verabschiedet. Die totale Freiheit hatte kleine Bestien geboren. Plötzlich war wieder Strenge angesagt: Grenzen ziehen! „Kinder brauchen Regeln“, war die Parole der Stunde.

Ein Muster, an das man sich nicht erst seit dem Mord an Theo van Gogh erinnert fühlt. Kein Leitartikel, keine Glosse, in der nicht das multikulturelle Toleranzideal entschieden verworfen wird. Diesmal in der Rolle des Zöglings: der Muslim. Grenzen ziehen! Muslime brauchen Regeln!

Sie verachten unseren Laizismus, haben keinen Sinn für Ironie und verpuppen sich in Parallelgesellschaften, in denen die Menschenrechte nichts gelten, wickeln ihren Frauen hässliche Tücher um den Kopf, verprügeln und vergewaltigen sie gewohnheitsmäßig, und es ist allgemeine Übung, dass Brüder ihre Schwestern erstechen, wenn die gegen die Scharia verstoßen. Und warum das alles? Weil die Holländer, in Wahrheit aber wir alle, so tolerant waren. Multikulturalismus, das ist doch eigentlich nur eine „verkehrte Toleranz fürs Intolerante“, die „Feigheit der Zivilgesellschaft“ (Dirk Schümer in der FAZ). Die Toleranz ist „in Wahrheit Indifferenz“ (NZZ), nichts anderes „als fahrlässige Gleichgültigkeit“ (so der niederländische Publizist Paul Scheffer in der Welt), Camouflage des „gleichgültigen Nebeneinander“ (Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung). Selbst der bedächtigste Kommentator kommt ohne eine dramatische Distanzierung von der Toleranz nicht mehr aus. Schluss muss sein mit dem Laisser-faire. Ab jetzt wird ganz fest hingeschaut!

Damit kein Missverständnis entsteht: Das ist wahrscheinlich alles nicht ganz verkehrt. Und doch: der Ton! Unwillkürlich stellt man sich beim Lesen vor, mit welcher Verachtung der Autor das Wort „Toleranz“ ausspricht. Er kann es kaum in den Mund nehmen, ohne auszuspucken. Toleranz, das ist: Feigheit vor dem Feind; unterlassene Hilfeleistung; nur etwas für Weicheier, die leise und mit eingezogenem Kopf „anything goes“ summen, weil sie nicht fähig sind, ihre Werte zu verteidigen. Die, wenn sie mit Unrecht konfrontiert werden, sich als Erstes die Augen zuhalten.

In der Rede von der „falschen Toleranz“ schwingt ein Groll mit, der sich offenbar lange aufgestaut hat: über den Türkenbuben, der beim Fußball immer überhart gespielt hat, dem das Gewinnen wichtiger war als unsere verzärtelte Fairness; über den Neger in der Disco, der die Girls so plump anmachte, dem die subtilen und politisch korrekten Flirtcodes, auf die wir uns in langen wortlosen Prozessen verständigt haben, so offenbar am Arsch vorbei gingen. Denen haben wir nie etwas gesagt, weil die uns dann gleich mit der Rassismuskeule gekommen wären.

Aber jetzt haben wir auch eine Keule in der Hand: „falsche Toleranz“. Zumindest den Alis können wir es jetzt heimzahlen. Die demokratischen Rechtsstaaten haben „die abweichende Lebensführung der islamischen Minderheiten“ geduldet, „bis hin zu Dingen, die sie schon nicht mehr dulden sollten“, bilanziert Jens Jessen im Leitartikel der Zeit. Der säkulare Liberalismus hat sich als neutral missverstanden, obwohl er doch selbst eine Weltanschauung ist. Er steht nicht über den Religionen, sondern in Frontstellung zu religiösen Wahrheitsansprüchen. Der liberale Rechtsstaat sollte sich ab nun „offen zu seiner Parteilichkeit bekennen“.

Den Feind im Visier ist jetzt Kampf angesagt. Hochkonjunktur hat in diesen Wochen unvermeidlich Leon de Winter, der nie fehlen darf, wenn es gegen die Feinde der Freiheit geht. Da der Mörder van Goghs gut ausgebildet und bestens integriert war, aber doch tickte, als lebte er in einer ehrenhändlerischen Nomadengesellschaft, attestiert de Winter in der Welt, sei es offenbar möglich, „hier aufzuwachsen und dennoch in einer vollständig anderen Gesellschaft zu leben“. In der Zeit geht er noch einen Schritt weiter: die „arabisch-islamische Schamkultur“ unterscheide sich derart schroff von der individualistisch-hedonistischen Kultur des Westens, dass es „nur den Stärksten und Klügsten“ gelinge, die „Anpassungsschwierigkeiten“ zu überwinden. Mag da ein Özdemir, dort eine Ayaan Hirsi Ali leuchten – die Masse der Muslime (und besonders der arabischen) sind modernisierungsresistente Allah-Fans.

Mit dem Mord an Theo van Gogh, dem clownesk-anarchischen Filmemacher, haben die liberalen, säkularen Intellektuellen Europas endlich wieder etwas zum Kämpfen. Bisher war der „Krieg gegen den Terror“ offenbar doch zu weit weg. Und im Mord an van Gogh erscheint die Frontstellung hell erleuchtet: hier der notorische Provo, der die hedonistische Spektakelkultur, die jeden Augenblick vom halben Ernst in die totale Ironie zu changieren vermag, in Reinkultur verkörperte – und da der verbissene Dschihadist mit dem Fleischermesser, der keinen Spaß versteht. Welch eine Gelegenheit, die Denker an die Front zu befehlen, wie das in den USA auch linksliberale Essayisten wie Paul Berman schon länger tun: „Die freiheitliche Gesellschaft“ müsse „eine kriegerische Gesellschaft sein, wenn sie herausgefordert“ wird, schrieb er in dem Buch „Terror und Liberalismus“.

Auch das ist nicht falsch und doch ist der hohe Ton decouvrierend. Der kämpferische Liberale kämpft immer auch gegen etwas in sich selbst an: gegen seine Friedlichkeit, die er insgeheim verachtet; gegen den Zweifel, ob die liberale Kultur nicht doch eine klägliche Kultur ist, unfähig, für ihre Werte einzustehen – sofern sie überhaupt noch welche hat; gegen die innere Leere, das Mangelgefühl, das er verspürt, weil ihm die großen Gefühle fehlen, die einst die religionsähnlichen Weltanschauungen bereitstellten. Im Kampf gegen den „islamistischen Totalitarismus“ kann er sich endlich wieder in die Heldenpose werfen. Er fühlt sich schwach und gibt sich darum besonders schneidig.

Womöglich steckt in der heutigen Verhöhnung der Toleranz ein gehöriger Schuss liberaler Selbsthass.