Über die Köpfe hinweg

Nach der Ermordung von Theo van Gogh scheint die ganze Stadt über Multikulti zu streiten. Doch viele Muslime am Kottbusser Tor interessiert das kaum – und manche zeigen gar Verständnis für den Mord

von ULRIKE LINZER
und OLIVER MARQUART

„Deutschland ist gut. Die Stimmung hat sich nicht verändert.“ Ali Namal, Kellner im Restaurant Hasir in der Adalbertstraße, gibt sich gelassen: „Was in Holland passiert ist, war eine Sache zwischen zwei Menschen. Mit dem Islam hat das nichts zu tun.“

Ganz Deutschland scheint derzeit über die Zukunft der multikulturellen Gesellschaft zu diskutieren. Aber die nach der Ermordung Theo van Goghs losgetretene Diskussion über Multikulti wird offenbar über die Köpfe der türkischen Community hinweg geführt. Wer sich zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz zu diesem Thema umhört, erntet wenig bis gar kein Interesse. Von dem Mord an dem holländischen Filmemacher hat er zwar gehört, sagt der Kellner Namal. Er glaube aber nicht, dass der Vorfall Auswirkungen auf in Berlin lebende Muslime hat.

Auch für eine etwa 30-jährige Frisörin, die in einem Salon am Kottbusser Damm arbeitet, sind die Ereignisse kein Thema: „Bei uns im Laden oder auch im Familien- und Freundeskreis wird darüber nicht diskutiert.“ Betont gleichgültig gibt sich ein junger Mann an der Kasse eines Internetshops. „So lange ich keine Probleme habe, ist es mir egal.“

Mehmet Gencay im Wettbüro am Maybachufer hat von der Debatte ebenfalls nichts mitbekommen. „Wir beschäftigen uns hier von Berufs wegen nur mit Sport, nicht mit Politik. Wenn man dann abends nach Hause kommt, ist der Kopf zu“, begründet er, warum er nichts zu der Thematik beitragen kann.

Die Schlagzeilen der Zeitungen, die Ulak Aydin an seinem Kiosk verkauft, sind nicht zu übersehen. „Schily warnt vor Multikulti-Seligkeit“, titelt etwa die Welt. Der Inhaber äußert dessen ungeachtet die Ansicht: „Die deutschen Medien berichten nicht negativ über Muslime.“ Außerdem werde das Thema bald wieder verschwunden sein.

So scheinbar teilnahmslos äußern sich viele der Angesprochenen. Haben sie wirklich nichts mitbekommen – oder sind sie des Themas einfach müde? Manchmal hindert offenbar auch die Sprachbarriere.

Und vereinzelt werden auch ganz andere Töne angeschlagen. Aydin Atila, dem ein Musikshop am Kottbusser Tor gehört, etwa meint: „Es ist nicht gut, dass die Medien darüber so viel berichten. Es kann sein, dass hier auch noch etwas passiert, wenn es so heiß geredet wird.“ Zu den Ereignissen in Holland hat er eine klare Meinung. „Jemand hat einen Fehler gemacht und seine Strafe gekriegt. Das wird alles dramatisiert.“ Ein gerade anwesender Kunde geht noch weiter: „Die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen“, findet er.

Eine 16-jährige Libanesin an der Bushaltestelle ist überzeugt: „Der Islam wird in Deutschland gehasst. Die deutschen Medien sind islamfeindlich.“ Die Klasse ihrer kleinen Schwester habe mit der Lehrerin über den Mord an van Gogh diskutiert. Alle Schüler seien der Meinung gewesen, dass er berechtigt gewesen sei.

Dönerverkäufer Yilmaz Ali, der sich selbst als Atheisten bezeichnet, sieht den Fall van Gogh differenzierter. „Beide Seiten tragen eine Schuld.“ Die Medien würden das Thema teilweise hochkochen.

An Rasim Develi ist die Diskussion über Multikulti auch nicht vorbeigegangen. Die Zeitungen gehen seiner Meinung nach aber vorsichtiger mit dem Thema um als in der Vergangenheit. „Die Bild hetzt nicht mehr so gegen Ausländer wie früher.“ Aber viele Deutsche hätten immer noch eine Mauer im Kopf.

Ein 19-jähriger Türke beklagt hauptsächlich die Pauschalisierungen, die die Diskussionen mit sich brächten. „Die Deutschen setzen Muslime sehr oft einfach mit Terroristen gleich. Sobald jemand streng gläubig ist, wird er verdächtigt. Alles wird vermischt“, sagt er kopfschüttelnd. Außerdem findet er, dass die Konflikte im Irak und in Palästina eigentlich Themen wären, über die diskutiert werden sollte. Im Irak, das sagen einige, stürben derzeit doch viel mehr Menschen als in Holland.