Die Kluft beim Essen

UNGLEICHHEIT Während bei der Aktion „Laib und Seele“ Bedürftige für Reste Schlange stehen, geht in den Galeries Lafayette Frisches direkt aus Paris über den Tresen

Kalle, 29: „Ich habe immer noch kein Geld auf der Bank, das seinen Wert verlieren könnte“

VON DANIEL FREESE

Die Luft steht, in der St. Paulus Kirche. Die meterhohen, aschgrauen Wände lassen gesprochene Worte laut widerhallen. Ein dumpfes Gemurmel, das über den 200 voll besetzten und ebenfalls farblosen Plastikstühlen liegt. Nein, es gibt keinen Gottesdienst an diesem Samstagmorgen im Berliner Norden, dem Wedding. Die Menschen drängen sich nicht ihres Seelenfriedens, sondern ihres körperlichen Wohls wegen aneinander: Die Aktion Laib und Seele gibt Lebensmittel aus.

„Wir sammeln die Nahrungsmittel aus Supermärkten ein, um sie dann hier auszuteilen“, sagt Gretel Roepke, „die Sachen sind meist kurz vorm Verfallsdatum. Noch genießbar.“ Von Anfang an, seit vier Jahren also, engagiert sich die kleine, in Türkistönen geschminkte und rot gekleidete Rentnerin für ihre Mitmenschen im Kiez. Für einen symbolischen Euro kann sich jeder, der seine Bedürftigkeit nachweisen kann, eine Ration abholen.

Langsam schleppt sich die Warteschlange rechts neben dem Altar in den hinteren Teil der Kirche. Station für Station werden hier Toast, Erdbeerjoghurt, Tomaten, Brokkoli und Orangen ausgeteilt. Die Gespräche klingen fröhlicher, jetzt, wo Reste aus den Supermarktregalen in Trollis und Taschen verschwinden. Gretel Roepke verschnauft kurz. „Wenn die Ware hier ankommt, müssen wir erstmal aussortieren“, die Brillenträgerin mit den lockigen, rötlichen Haaren, verzieht leicht das Gesicht. Zwei Müllcontainer voller Schimmeligem, Matschigem oder Geronnenem füllen sich schnell. Immer. Ausschuss, sagt sie. Ein große Supermarktkette sorge oft für besonders viel Wegwerfarbeit. „Die Müllabfuhr kostet die auch Geld. Da wird schon mal eine Kiste voll mit schlechten Lebensmitteln gepackt und mit ein paar guten bedeckt. Die geht dann an uns.“ Gretel Roepke schüttelt den Kopf.

René Treichel sitzt in der hintersten Reihe der Kirche. Der 19-Jährige ist spät dran. Sein Atem riecht nach just gequalmter Zigarette, der Fuß wippt unablässlich auf und ab. René kennt das hier. Der junge Mann mit Igelfrisur, der fahlen Haut und den spitzen Wangenknochen ist fast jeden Samstag in der Kirche um die Ecke. „Ist gut, dass es das gibt“, sagt er und nickt ruckhaft, „das Geld, dass ich durch die Ausgabe spare, brauch ich echt zum Leben.“ 150 Euro hat der Hauptschulabgänger monatlich in der Tasche, sagt er. Was kommt bei ihm morgens, mittags, abends auf den Tisch? „Stullen. Is am billigsten.“ Arbeit hat René, seit er von der Hauptschule ist, nicht. „Aber ’nen Riesenhaufen Schulden.“ Satte 3.000 Euro. „Ham mich letztes Jahr so siebzigmal beim Schwarzfahren erwischt. So hat sich das angesammelt.“ Er vergräbt das Gesicht in den Händen.

Ein Bärtiger eine Reihe vor ihm dreht sich um. Kalle ist 29 und geht nach Knast, Alkoholsucht und 1-Euro-Job den zweiten Bildungsweg. Er spricht René Mut zu, macht Witze. Als das Gespräch auf die Wirtschaftskrise kommt, wird er zynisch: „Wir waren vorher die Verlierer, wir sind jetzt die Verlierer.“ Er schüttelt den Kopf, grinst bitter: „Ich habe immer noch kein Geld auf der Bank, das seinen Wert verlieren könnte.“

Ein paar Kilometer südlich ist Jocelyn Lebuhotel, Leiter der Gourmet-Abteilung im Kaufhaus Galeries Lafayette, von Galgenhumor weit entfernt. „Wir machen bisher den gleichen Umsatz wie im Vorjahr,“, versichert der Anzugträger mit tänzelndem französischen Akzent. Er habe rechtzeitig auf „Neues, Frisches“ gesetzt. Dem Profikoch zufolge halten Pina Colada und raffiniertes Gebäck aus Paris das Krisengespenst bislang also erfolgreich fern.

Steve Krane ist seit zwei Jahren Stammkunde in der Feinkostgalerie an der Französischen Straße. Der kanadische Geschäftsmann ist groß gewachsen und trägt grau melierten Dreitagebart. Seine zierliche, braun gebrannte Frau Jane trägt die Einkaufstasche: frisches Brot, Käse, Fleisch, ein paar Flaschen Wein lugen hervor. Was so ein Einkauf denn normalerweise koste? „Ungefähr 150 Euro“, sagt er. Sicher spüre er die Wirtschaftskrise: „Das tun wir doch alle. Je weniger die Leute ausgeben, desto weniger verdienst du.“ Vor ein paar Monaten seien sie nie am Samstag shoppen gewesen: „Da konnte man hier keinen Fuß vor den anderen setzen, so voll war es.“ Crane streckt seinen Arm aus: „Und jetzt? Es ist Samstag. Und richtig leer. Das ist die Krise.“

In der St. Paulus Kirche dagegen wird es voller. Gretel Roepke rechnet nach: „Wir sind vor vier Jahren mit 40 Bedarfsgemeinschaften gestartet. Jetzt haben wir schon 220 auf der Liste.“