Eine ziemlich verzwickte Geschichte

Die Reißzwecke wird bald hundert Jahre alt. Überall auf der Welt kennt man sie. Nirgendwo aber ihren Erfinder. Er hieß Johann Kirsten, war eigentlich Uhrmachermeister und lebte in Lychen, Brandenburg. Doch sein Heimatort tut sich schwer mit dem prominenten Erbe. Ein Ortstermin in der Uckermark

So wie sein Denkmal ist auch die Erinnerung an den Erfinder mit Rost überzogen

AUS LYCHEN JOHANNES GERNERT

„Die den Gegenstand vorliegender Erfindung bildende Heftzwecke unterscheidet sich von den bekannt gewordenen Ausführungen dadurch, dass zur Verhinderung des Durchdrückens des eigentlichen Nagels oder Stiftes durch die Kopfplatte die für diesen Zweck vorgesehene Kapsel in Fortfall kommt.“ (Patentschrift des Kaiserlichen Patentamtes vom 8. Januar 1904)

Bei der Einweihung des Reißzweckendenkmals schien endlich alles gut zu werden. Der neue Bürgermeister war da und forderte, dass Lychen weltbekannt werden müsse wie die Pinne. Und als jemand fragte, wo man die denn auf der Speisekarte ihres Seehotels finde, hat Christa Kothe sich spontan den Salat „Pinne“ ausgedacht. Geschnittenes Gemüse und Obst mit Zahnstochern drin. Man muss eben schnell reagieren können. Kothe ist ein bisschen schneller als Lychen. Die Gemeinde in der Uckermark, die 3.500 Einwohner zählt, begegnet dem Uhrmachermeister Johann Kirsten eher zögerlich, der vor 100 Jahren die „Heftzwecke“ erfand.

„Die Lychener schätzen ihre Geschichte nicht“, sagt Christa Kothe. Die Wirtin des Seehotels schon. Sie ist auch keine Lychenerin. Sie ist erst vor wenigen Monaten zu einer halben Lychenerin geworden, als sie das Hotel übernahm. Seitdem versucht sie, die Lychener ihre Geschichte schätzen zu machen. „Der Prophet gilt im eigenen Land nichts“, stellt Kothe dabei fest.

Die Prophetin trägt leuchtend rot gefärbte kurze Haare und ein dirndlhaftes Kleid mit einer irgendwie bayerischen Weste darüber, während sie die touristischen Vorzüge der alten Bundesländer erläutert. „Man kann nicht in 12 Jahren erreichen, was die in 50 gemacht haben“, räumt sie ein. Aber Kothe und ihr Mann Werner, der Bildhauer, sie arbeiten dran. „Was die Stadt braucht, ist Aufmerksamkeit“, sagt Christa Kothe.

Die allerdings bekommt der Reißzweckenerfinder in Lychen kaum. Das zeigt sich auch im Zustand des Hauses, in dem er gewohnt hat. Er sieht nicht gerade gepflegt aus, der grau verputzte Bau, eingeklemmt zwischen zwei freundlicheren Fassaden. An der Vorderfront wurde ein Schild angebracht, das das Haus zum Verkauf anbietet. Darüber informiert ein anderes, dass Johann Kirsten hier einmal gelebt hat. Es ist leicht zu übersehen.

Man kann Lychen nicht vorwerfen, dass es sich gar keine Mühe gebe. Es sind auch nicht alle Lychener gleichgültig. Bärbel Hampel etwa versteht, dass es den Reißzweckenerfinder auf der Welt nur einmal gibt. Sie leitet die örtliche Touristeninformation. Sie hat eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, eine AG Reißzwecke. Dafür hat sie einen grünen Hefter angelegt, in dem sie Informationen sammelt. Der Hefter ist nur wenige Blätter dick. Man weiß nicht viel über Johann Kirsten.

Man weiß Folgendes. Der Uhrmachermeister hat um die Jahrhundertwende gelebt. Er soll ein kauziger, chaotischer Typ gewesen sein. Ein Tüftler, der sich auch ein Verschlussventil für Kohlensäureflaschen ausdachte. Er soll gern getrunken haben. Und es gibt diese Anekdote, in der er sich eine Kutsche bestellt, um nach nebenan in die Kneipe zu fahren, während seine Kinder verlaust und hungrig zu Hause sitzen. Kirsten hat nicht groß verdient an seiner Erfindung. Er verkaufte seinen Einfall dem Kaufmann Otto Lindstedt, der die „Heftzwecke“ als Patent anmeldete. Lindstedt verdiente mit seiner Kurzwarenmetallfabrik Millionen. Bevor 1945 die Russen kamen, brachte er sich und seine Familie um.

Über den Tod Kirstens ist nichts bekannt. Er hat kein Grab in Lychen. Es gibt von ihm keine Fotos. Seit wenigen Wochen jedoch gibt es ein Denkmal, das auch erzählt von Lychens Verhältnis zu seinem berühmten Bürger. Als der Ort 750 Jahre alt wurde, das war 1998, entwarf der Bildhauer Werner Kothe eine Reißzweckenstatue. Den Entwurf überreichte er dem Bürgermeister, während der Feierlichkeiten in der Turnhalle. Der stellte ihn ins Rathaus, wo er stehen blieb.

In diesem Sommer beschloss Kothe dann, das Denkmal selbst zu bauen. Seine letzten Ersparnisse habe er zusammengekratzt, sagt er, um das Projekt zu verwirklichen. Und er grinst dabei so, dass man weiß, dass es die allerletzten nicht gewesen sein können. Jetzt steht das Reißzweckendenkmal vor dem Seehotel seiner Frau. Ein mannshohes Podest. Darauf sitzt silbern die Pinne und ähnelt ein bisschen einer Sattelitenschüssel. Den rostbräunlichen runden Sockel ziert eine Widmung für Johann Kirsten. So wie sein Denkmal ist auch die Erinnerung an den Erfinder mit Rost überzogen.

Viele Lychener haben sich mittlerweile beschwert, dass das Denkmal nicht vor dem Rathaus steht, mitten in der Stadt, sondern wenige Kilometer außerhalb, hinter dichten Bäumen, nahe dem Seeufer. Deshalb sagt der Bürgermeister nun, dass noch ein Platz gesucht werde. Dass Lychen sich aber nichts Teures leisten könne. Werner Kothe antwortet nicht, wenn man ihn nach dem Preis fragt. Zur Standortfrage sagt er knapp: „Die Sache ist gegessen. Das Ding steht hier.“

Schließlich ist die Statue auch ein PR-Gag. Man müsse eben in die Medien, sagt Christa Kothe. Das Hotel hat erst im Mai eröffnet. Da braucht es Anschuböffentlichkeit. Kothes kennen sich aus mit so was. Sie haben im benachbarten Annenwalde vorgemacht, wie man etwas aufbaut, die Betriebswirtin aus Mecklenburg und der Berliner Bildhauer, die in den Achtzigern in die Uckermark zogen. Ein Hotel, ein Atelier, eine Glashütte mit Veranstaltungen für „Kulturfreaks“.

Wenn der Bürgermeister klagt, dass für eine zentrale Reißzweckenwürdigung das Geld fehle, akzeptiert Christa Kothe die Ausrede nicht. Irgendwie kommt man an Mittel. Fünf Jahre hat das Ehepaar in Annenwalde gekämpft, bis in einer neu errichteten Hütte wieder Glas geblasen wurde. Das Geld kam aus Töpfen der EU. Auch anderswoher. Man muss schon Ideen haben. Wenn einer der Kothes eine Idee hat, kriegt er vom anderen 10 Cent. Kothes sind reich an Ideen. Man muss schon bereit sein, etwas zu tun.

Lychen ist noch nicht bereit. Lychen ist lang wie seine Entscheidungsprozesse. Es zieht sich zwischen mehreren Seen hindurch. Ein bisschen erinnert der Ort auf der Karte an eine Reißzwecke. Ein bisschen nur. Lychen ist wunderschön, gerade im Herbst, wenn bunte Bäume aus einem feuerroten Laubteppich wachsen. Daneben schillern leise die Seen. Lychen ist ein ostdeutscher Ort, ein sehr ruhiger, in dem mittags alte Menschen mit Einkaufswägelchen über die Straße laufen. Ein Ort ohne Arbeit.

„Es wäre schön, wenn wir wieder eine Pinne hätten“, sagt Bärbel Hampel, die Leiterin des Tourismusbüros. Der klobige Backsteinbau der alten Fabrik wird gerade renoviert. Von außen sieht er verlassen aus wie Kirstens Haus. Bis in die Sechzigerjahre entstanden hier Reißzwecken der Marke Record. Hergestellt vornehmlich von Frauen.

Anna Gall hat jahrelang die Norm erfüllt. 180 Gramm am Tag. Sie saß in einer Reihe mit anderen Arbeiterinnen, an Geräten, die Nähmaschinen glichen. Rechts lagen die Stifte, links die Platten. Stifte in die Maschine legen, Platten drauf. Dann: Rumms. Mit dem rechten Fuß den Mechanismus auslösen, der alle zusammenstanzt. Mit dem linken die Maschine öffnen. Fertige Reißzwecken raus, rein in die Pappschachteln. Der Verdienst sei mager gewesen, sagt Gall. Die Stimmung im Werk prächtig. Bärbel Hampel hat Bilder gesammelt, auf denen die Arbeiterinnen zu sehen sind. Es sind vergilbte Schwarz-Weiß-Bilder.

Und in Schwarz-Weiß erinnert sich Anna Gall noch, wie es weh tat, wenn der rechte Fuß beim „Quatschen“ schneller wurde als der linke Daumen. „Zack“, sagt Anna Gall. Wenn die Maschine nicht nur die Zwecken plättete, sondern auch den Finger. Geblieben ist außer der Erinnerung nicht viel.

Hampel will, dass noch ein bisschen mehr bleibt. Nicht nur wegen der Touristen. Touristen kommen auch ohne die Reißzwecke. Lychen ist nach der Wende ein beliebter Erholungsort geblieben. 90.000 Übernachtungen im Jahr, bilanziert Hampel. Es geht nicht nur um Touristen. Es geht um Geschichte, um „ideelle Werte“. Bald werden sich die paar Mitglieder der AG Reißzwecke noch einmal vor der alten Pinnefabrik treffen, um ein Gruppenfoto zu machen.

Das Fabrikgebäude steht versteckt am Seeufer, hinter einer fast frisch gestrichenen Apotheke. Man weiß in Lychen nicht so viel über die Pinne. Man weiß außerhalb bald mehr, wegen der Journalisten. In Lychen sagen die alten Leute, sie hätten davon gehört. Von der Reißzwecke. Sie sagen auch: „Das interessiert hier nicht so dolle.“ Man kann den Leuten das schwer vermitteln, warum das interessieren soll. Kothes tun sich damit schwer. Bärbel Hampel tut sich schwer. Sie inseriert in der Zeitung, in der Hoffnung, dass sich Zeugnisse von der Pinnefabrik in den Familien finden. Vielleicht sogar eine der alten gusseisernen Maschinen, die in den Sechzigern alle verschrottet wurden. Mit so einer Maschine könnten sich die Touristen im Reißzwecken-Museum ihre Pinnen selber machen – zum Mit-nach-Hause-Nehmen. Freilich, das Museum müsste dafür erst eingerichtet werden. Aber das Haus Kirstens steht schließlich leer. Werner Kothe hat überlegt, ob er es dessen amerikanischer Urenkelin abkaufen soll, um ein Museum daraus zu machen. Es war ihm aber zu teuer. Immerhin hat Kothe schon ein Denkmal gebaut.

Immerhin serviert seine Frau den Reißzwecken-Salat „Pinne“. Immerhin hat Bärbel Hampel einen Hefter angelegt. Immerhin. Es tut sich etwas in Lychen.