„Die Immigration ist wie Lava“

„Das Bewahren des Friedens im Mittleren Osten findet im Mittleren Osten statt, nicht in Washington“

INTERVIEW MELANIE FEUERBACHER
UND ROLAND ERNST

taz: Herr Oz, Ihr neuer Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ wirkt wie das große Nationalepos der osteuropäischen Juden, die nach Israel eingewandert sind.

Amos Oz: Ja, das habe ich schon öfter gehört. Es liegt daran, dass diese Familiengeschichte so unglaublich mit den historischen Ereignissen der Zeit verknüpft ist. Darum musste es ein Epos werden. Im Grunde ist mein Roman eine Geschichte von Mutter, Vater und Sohn. Einfache Musik. Und plötzlich wird daraus eine komplette Symphonie von fünf Generationen auf verschiedenen Kontinenten.

Was war die große Liebe, die Ihnen widerfuhr? Und was die Finsternis?

Meine Familie verließ Europa nicht aus freien Stücken, nicht aus einer Aufbruchstimmung heraus, sondern weil sie rausgeschmissen wurde. Das war auch insofern sehr dramatisch, da meine Familie Europa wirklich liebte. Meine Eltern waren Kosmopoliten, sie lasen mehrere europäische Sprachen. Sie dachten, sie wären Europäer. Niemand fühlte sich in diesen Tagen als Europäer. Jeder war ein französischer, deutscher oder bulgarischer Patriot. Meine Finsternis ist es, dass meine Eltern mich keine einzige europäische Sprache lehren wollten.

Warum?

Sie hatten Angst, dass ich allein mit einer einzigen europäischen Sprache eines Tages von den Verlockungen Europas verführt werden würde. Ich würde nach Europa gehen – und damit in den Tod. Und zur Liebe: Ich wuchs in einer sehr liebevollen Familie auf. Diese Liebe endete in einer schrecklichen Finsternis.

Sie vergleichen die osteuropäischen Einwanderer in Ihrem neuen Roman mit Figuren aus Tschechows Theaterstücken. Warum?

Es gibt eine Tragödie und eine Komödie in jeder Immigration. Fast jede Immigration beinhaltet Träume und Hoffnungen, weil man ja auch ein Land verlässt, und deshalb geht es um Verlust und damit einhergehend um Nostalgie. Sobald die Immigranten entdecken, dass sie nicht schaffen werden, was sie sich erhofft haben, laden sie das gesamte Gewicht ihrer Ambitionen auf ihre Kinder. Oder, in meinem Fall, auf ein Kind. Das ist die Tragödie und die Komödie. Aber es ist nicht nur so in Israel. Mit den türkischen Einwanderern in Deutschland ist das genauso.

Zu Israel gibt es aber fundamentale Unterschiede. Die osteuropäischen Immigranten sind jene, die die Siedlungspolitik nachhaltig beeinflussen.

Jeder Einfluss von Immigration verändert Israel. Es ist wie Schichten von Lava nach einer Vulkanexplosion. Unten ist es glühend, oben schon kühler. Ganz Israel ist ein Flüchtlingscamp. Genau wie Palästina. In Israel gibt es chinesische Juden, indische Juden oder schwarze Juden, die niemals wussten, dass es überhaupt weiße Juden gibt. Es gab da ein Dorf, dass Äthiopien mit dem Flugzeug verließ. Der Rabbi der Gemeinde sagte nach der Ankunft: Lasst uns wieder zurückkehren, das ist kein jüdisches Land, hier sind alle weiß. Vielleicht gibt es auch weiße Juden, die nichts von der Existenz schwarzer Juden wissen. Israel jedenfalls ist nahezu universell.

Dennoch gibt es einen unübersehbaren Nationalismus.

Stimmt, die neuen Israelis tendieren dazu, sehr nationalistisch zu sein und chauvinistisch, um sich selbst zu beweisen, dass sie in dieses Land gehören. Es gibt da übrigens eine israelische Definition von Einwanderern. Es heißt, ein Immigrant ist eine Person, die sich im ersten Jahr beschwert, dass die Regierung nichts für ihn tut. Im zweiten Jahr beschwert er sich darüber, dass die Einheimischen schroff und abweisend sind. Im dritten Jahr beschwert er sich über die Neuankömmlinge, die den Mund aufmachen.

Ein Dreh- und Angelpunkt Israels sind natürlich die Palästinenser. Sie haben einmal gesagt, Sie hätten Probleme mit dem Verlauf der Mauer, nicht aber mit der Idee. Das klingt gerade für deutsche Ohren befremdlich?

Die Mauer in Deutschland trennte Deutsche von Deutschen aus einer diktatorischen Handlung heraus. Aber, seien wir ehrlich, Deutschland hat auch jetzt noch Mauern und Europa auch. Jedes Mal, wenn ich nach Europa komme, benötige ich, da ich kein Mitglied der Europäischen Union bin, Visa und muss beweisen, dass ich wieder zurückreise. Wir leben in einer Welt, in der jeder ein Schloss an der Tür hat und Vorhänge an den Fenstern. Es ist nicht falsch, wenn Israel und Palästina, zumindest für eine Generation, einen Zaun zwischen sich haben, weil ein Zaun die Gewalttätigkeit reduzieren kann. Aber das hat eine strikte Bedingung: Diese Mauer oder dieser Zaun muss zwischen meinem Garten und dem meiner Nachbarn gebaut werden. Und nicht mitten durch den Nachbarsgarten.

Aber genau das tut Israel.

Für Israel ist es eine Notwendigkeit, sichere Mauern zu haben. Aber es ist falsch, einen Zaun mit einem solchen Verlauf zu bauen, dass palästinensische Dorfbewohner von ihrem Dorf getrennt werden und palästinensische Schüler von ihrer Schule. Das kann ich nicht akzeptieren. Aber wenn die Israelis beschließen – oder die Palästinenser – dass sie eine Mauer zwischen Israel und Palästina bauen wollen, dann ist das nicht schön, aber vielleicht eine Notwendigkeit. Es ist kindisch zu glauben, alles, was wir brauchen, sei ein einfaches Miteinander.

Viele Deutsche fragen sich, warum eine Lösung so schwer herzustellen ist und Palästinenser und Israelis nicht einfach friedlich miteinander leben können.

Das kann man verstehen, ist aber eben so kindisch, als hätte man 1945 Deutschland und Russland vorgeschlagen, eine glückliche Nation zu werden. Darüber lachen die Leute, aber schlagen dasselbe uns Israelis vor. Löst die Grenzen auf und werdet eine multirepublikanische Gesellschaft. Leider haben wir eine Leidensgeschichte von hundert Jahren.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel?

Wir müssen uns jenseits von CNN und anderen Medien sehen. Wir haben mehr Themen, über die es zu sprechen lohnt, als den Tod Arafats, seine Nachfolgeregelung oder den Input der Europäer für die palästinensische Gesellschaft oder Israel. Da gibt es einen liebevollen und doch schmerzhaften jüdisch-deutschen und jüdisch-europäischen Austausch. Wir müssen weniger über aktuelle Nachrichten sprechen, sondern wir brauchen etwa viel mehr Übersetzungen von zeitgenössischer deutscher Literatur ins Hebräische und hebräischer Literatur ins Deutsche. Bücher sind wichtiger als Zeitungen. Zeitungen vermitteln oft nur Stereotype.

Wie empfinden Sie denn das heutige Deutschland?

Ich habe es lange abgelehnt, nach Deutschland zu kommen, ich hatte da eine emotionale Blockade. Was meine Meinung geändert hat, waren die Arbeiten deutscher Autoren wie Günter Grass, Heinrich Böll oder Siegfried Lenz – sie nahmen mich auf sehr intime Art und Weise mit ins deutsche Leben und zwangen mich, meinen Eindruck zu ändern.

Warum gibt es so wenige Übersetzungen?

Ich glaube, weil wir zu wenig in diesen Austausch investieren. Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, ein bescheidenes Programm zu etablieren, dass Übersetzer in beide Richtungen trainiert. Nicht viele, fünf oder zehn. Übersetzer von hebräischer Literatur ins Deutsche und deutscher Literatur ins Hebräische. Übersetzer müssen trainiert werden, nicht einfach nur beide Sprachen erlernen, sie müssen lernen, wie man Literatur übersetzt. Es passiert so viel in der deutschen Literatur, und wir bekommen davon viel zu wenig zu lesen. Ich möchte zum Beispiel Peter Handke nicht in Englisch lesen, sondern in Hebräisch.

Ist er denn nicht übersetzt?

Nur sehr wenige Bücher, und die nicht einmal gut.

Dasselbe passiert auch in umgekehrter Richtung?

Ja, auch die neue israelischen Literatur sollte von den Deutschen gelesen werden. Stattdessen bekommen sie nur Bilder von Westbank-Siedlern, religiösen Fanatikern oder Scharon. Wirklich, im deutschen Fernsehen sehe ich nur ein Israel, das 80 Prozent religiöse Fanatiker und Siedler hat, 90 Prozent Soldaten und ein Prozent wundervolle, friedliebende Intellektuelle. In Israel aber ist die Mehrheit der Menschen weltlich, pragmatisch, eine starke Mittelklasse mit normalen Ansichten, vielleicht mehr, als ich es mag. Dasselbe passiert übrigens mit den Arabern. Und nicht nur in deutschen Medien. Überall. Deshalb ist Literatur, Kunst, Theater und Kino so wichtig.

Wie sehen Sie das Ergebnis der US-Wahlen für den Friedensprozess im Nahen Osten?

Ich glaube nicht, dass das so wichtig ist. Alles, was bisher zwischen Israel und den Arabern erreicht wurde, geschah direkt zwischen beiden. Nicht durch die USA. Der Frieden mit Israel von 1978 war das Resultat direkter geheimer Verhandlungen – dem Abkommen zwischen Israel und der PLO in Oslo. Oder der Friede zwischen Israel und Jordanien, er basiert auf direkten Verhandlungen. Das Bewahren des Friedens im Mittleren Osten findet im Mittleren Osten statt, nicht in Washington.

Hätten Sie für Kerry gestimmt?

Ja, schon. Was das anbelangt, bin ich enttäuscht. Aber ich glaube nicht, das das Ergebnis Konsequenzen für den Mittleren Osten hat. Viele glauben, Kerry hätte den Israelis eher gesagt: Verschwindet sofort aus den palästinensischen Gebieten oder Amerika wird euch angreifen. Das ist natürlich nicht wahr.

Wie beurteilen Sie die Lage jetzt nach Arafats Tod?

Ich wünsche den Palästinensern, dass sie vorankommen mit einer pragmatischeren Führung. Ich würde dasselbe gerne in Israel haben. Beide, Israelis und Palästinenser, brauchen eine pragmatischere Führung. Es ist kein Geheimnis, dass ich kein Verehrer von Arafat war.

Haben Sie ihn jemals getroffen?

Nein. Ich möchte mich mit Intellektuellen und Denkern treffen, nicht mit palästinensischen Politikern, auf deren Meinung ich keinen Einfluss habe.