Minuswachstum: Die falsche Kritik der Alternativökonomen

Von SERGE LATOUCHE *

AUF den ausgetretenen Pfaden der Werbesprache wandelnd, bezeichnen die Medien jedes Projekt, mit dem sie kurzzeitig Aufsehen erregen wollen, als „Konzept“. Kaum verwunderlich daher, dass die Frage auftauchte, wie das „neue Konzept“ Minuswachstum, genauer als Wachstumsrücknahme bezeichnet, denn inhaltlich bestimmt sei.

Gleich hier sei betont, dass es sich nicht um ein Konzept im herkömmlichen Verständnis handelt. Auch von einer „Theorie der Wachstumsrücknahme“ in dem Sinn, wie die Ökonomen von Wachstumstheorien sprechen, kann mithin keine Rede sein. „Wachstumsrücknahme“ ist lediglich der Leitbegriff einer radikalen Kritik, die die eingefahrene ökonomistische Terminologie bloßlegen und Ansätze für eine Strategie „nach der Entwicklung“ skizzieren soll.[1]Wachstumsrücknahme als solche ist im Grunde nicht als konkrete Alternative zu verstehen, sondern als Matrix, die einer Fülle alternativer Ansätze gestattet.[2]

Der Begriff richtet sich gegen die Denkblockaden, die der ökonomistische, entwicklungsfixierte und fortschrittsgläubige Totalitarismus in unseren Köpfen ausgelöst hat, und will Platz schaffen für neue Ideen und kreative Entwürfe. Wer den Verfechtern dieses Ansatzes vorwirft, sie redeten „blinder Wachstumsrücknahme“, d. h. dem Ziel negativen Wachstums ohne Infragestellung des Systems das Wort, wer sie – was manche Alternativökonomen tun – verdächtigt, sie wollten den Ländern des Südens verbieten, ihre Probleme zu lösen – der hört entweder nicht richtig zu oder verbreitet wider besseres Wissen bösartige Unterstellungen.

Streng genommen bedeutet der Aufbau von autonomen, sparsamen und solidarischen Gesellschaften im Norden wie im Süden eher Nichtwachstum (acroissance) als Wachstumsrücknahme (décroissance). Ganz in dem Sinne, wie man von Atheismus spricht, geht es auch hier um die Absage an eine Religion, die Religion der Ökonomie. Dass am inhaltsleeren und daher ständig umdefinierten Fetischbegriff „Entwicklung“ trotz des manifesten Scheiterns der damit bezeichneten Orientierung irrational festgehalten wird, offenbart lediglich die Unfähigkeit, mit dem Ökonomismus – und schließlich auch mit dem Wachstum selbst – zu brechen.

Die Alternativökonomen können zwar nicht umhin, die Negativfolgen von Wachstum zur Kenntnis zu nehmen. Paradoxerweise wollen sie aber dem Süden gleichwohl noch Wachstum „zugute“ kommen lassen. Für den Norden reduzieren sie ihr Ziel auf eine „Entschleunigung“. Immer mehr Verfechter einer „anderen Globalisierung“ räumen inzwischen ein, dass das uns bekannte Wachstum sozial wie ökologisch weder nachhaltig noch wünschenswert oder zukunftsfähig ist. Gleichwohl sei Wachstumsrücknahme als richtungweisende Parole ungeeignet. Schließlich müsse man dem Süden, da ihm keine Entwicklung zuteil wurde, zumindest eine „Zeit lang“ das Recht auf dieses verfluchte Wachstum einräumen. So stecken sie in der Zwickmühle.

Entschleunigtes Wachstum bedeutet jedoch, dass man einerseits alle Annehmlichkeiten einer autonomen und sparsam wirtschaftenden Gesellschaft aufgibt, die sich ohne Wachstum in Solidarität entfaltet, und zugleich auf den einzigen Vorteil verzichtet, den kräftiges, ungerechtes und umweltzerstörendes Wachstum bieten kann, nämlich Arbeitsplätze. Wenn die Infragestellung der Wachstumsgesellschaft die „Arbeiterfestung“ Renault-Billancourt, wie verschiedentlich geäußert, in Verzweiflung stürzt, so wird die Neubestimmung einer substanzentleerten Wirtschaftsentwicklung, ihre „Entwicklung ohne Wachstum“, den Wachstumsjunkies ganz bestimmt nicht neue Hoffnung und Lebensfreude bescheren.

Um zu verstehen, warum der Aufbau einer jenseits der Wachstumsperspektive angesiedelten Weltgesellschaft für den Süden ebenso notwendig und wünschenswert ist wie für den Norden, dürfte ein Blick auf den Werdegang der „Wachstumsverweigerer“ von Nutzen sein. Das Ziel einer autonomen und sparsamen Gesellschaft hat sich im Zuge der Kritik an ökonomischer Entwicklung herauskristallisiert. Seit über vierzig Jahren analysiert und verurteilt eine kleine „Internationale“ von Anti- oder Post-Entwicklungstheoretikern die Verheerungen, die Entwicklung gerade auch im Süden anrichtet.

Doch diese Entwicklung war – ob im Algerien Houari Boumediennes oder im Tansania Julius Nyereres – durchaus nicht kapitalistisch oder ultraliberal geprägt, sondern galt explizit und höchst offiziell als „sozialistisch“. Sie sollte auf „Partizipation“ zielen und einen „endogenen“, „autozentrierten“, aus eigenen Kräften zu leistenden Prozess umfassen, der „basisnah und solidarisch“ zu organisieren sei. Dieser Prozess wurde häufig auch von humanistisch orientierten Nichtregierungsorganisationen angestoßen oder unterstützt. Doch von einigen bemerkenswerten Kleinsterfolgen abgesehen, scheiterte das Projekt auf der ganzen Linie. Wo es die „Entfaltung des Menschen und aller Menschen“ ermöglichen sollte, erstickte es in der Korruption, an seinen inneren Widersprüchen und dann an Strukturanpassungsprogrammen, die Armut in nacktes Elend verwandelten.

Für die südlichen Gesellschaften, die den Weg in die Wachstumsökonomie beschreiten, sind diese Zusammenhänge deshalb wichtig, weil es zu verhindern gilt, dass sie sich noch weiter in eine aussichtslose Sackgasse verrennen. Sie müssten damit anfangen, wenn dazu überhaupt noch Zeit ist, sich wieder „auszuwickeln“, d. h. die Hindernisse beiseite räumen, die ihnen den Weg zu alternativer Selbstentfaltung verbauen. In keinem Fall geht es darum, undifferenziert auf den informellen Sektor zu setzen. Denn Wachstumsrücknahme im Norden ist zwingend für die Entfaltung jedweder Alternative im Süden. Solange Äthiopien und Somalia trotz Hungersnot gezwungen sind, Lebensmittel zu exportieren, die wir an unsere Haustiere verfüttern, solange wir unser Schlachtvieh mit Sojakuchen mästen, für den der Amazonas-Regenwald gerodet wird – solange wie dies der Fall ist, wird jeder Ansatz zu wirklicher Autonomie im Süden schon im Keim erstickt.

In Afrika sind auch die Sozialisten gescheitert

WACHSTUMSRÜCKNAHME im Süden setzt voraus, dass wir versuchen, einen „Circulus virtuosus“ in Gang zu setzen. Er lässt sich mit acht Begriffen kennzeichnen: neu bewerten, umdenken, umstrukturieren, lokalisieren, umverteilen, reduzieren, wiederverwenden, recyceln. Ist dieser „tugendhafte Kreislauf“ erst einmal in Gang gebracht, ist es möglich, die wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit des Südens vom Norden zu beenden und an eine historische Entwicklung anzuknüpfen, die durch Kolonisation, Entwicklung und Globalisierung unterbrochen wurde. Es gilt, eine eigenständige kulturelle Identität herauszubilden, in Vergessenheit geratene landesspezifische Produkte, wieder einzuführen und die entsprechenden „antiökonomischen“ Werte zu pflegen sowie die traditionellen Techniken und Fertigkeiten neu zu entwickeln.

Und wenn wir im Norden zeigen wollen, dass wir wirklich gewillt sind, dem Süden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so müssen wir vielleicht noch eine andere Verpflichtung anerkennen, der nachzukommen einige indigene Völkern fordern: Wir müssen ihnen ihre verlorene Ehre zurückgeben. Dies wäre ein Ansatz, um mit dem Süden eine Partnerschaft der Wachstumsrücknahme zu begründen. Die Rückerstattung ihres geplünderten Erbes wird weitaus schwieriger sein.

Wenn wir uns dagegen entschließen, unter dem Vorwand der Bekämpfung von Elend, das durch die Wachstumslogik hervorgerufen wird, an ebendieser Wachstumslogik im Süden festzuhalten, so kann daraus nur eine weitere Verwestlichung folgen. Einem solchen Konzept mögen die besten Absichten zugrunde liegen – „der Bau von Schulen, Gesundheitsstationen, Trinkwasserleitungen und die Wiedererlangung von Ernährungsautonomie“. Tatsächlich läuft dies stets auf einen ordinären Ethnozentrismus hinaus, der die alte Fixierung auf Entwicklung beinhaltet.[3]

Man wird sich schon entscheiden müssen: Entweder man fragt die betreffenden Länder – d. h. ihre Regierungen oder die Öffentlichkeit – nach ihren Wünschen. Dann werden sie zweifellos nicht die Erfüllung von „Grundbedürfnissen“ verlangen, die der westliche Paternalismus ihnen zuschreibt, sondern Klimaanlagen, Handys, Kühlschränke und vor allem Autos. Und natürlich auch Kernkraftwerke, Kampfflugzeuge und Schützenpanzer.

Oder aber man nimmt den Aufschrei eines guatemaltekischen Bauernführers zur Kenntnis: „Lasst die Armen in Ruhe, und verschont sie mit eurem Entwicklungsgerede.“[4]Ob Vandana Shiva in Indien oder Emmanuel Ndione in Senegal – alle Sprecher der sozialen Bewegungen im Süden äußern sich auf ähnliche Weise. Erst vor kurzem haben die südlichen Länder ihre gesicherte Ernährungsbasis eingebüßt. In Afrika existierte sie noch bis in die 1960er-Jahre, bis zum Beginn der so genannten Entwicklungsoffensive.

Ist es nicht der Imperialismus der Kolonisierung, der Entwicklung und der Globalisierung, der die Selbstversorgung mit Lebensmitteln täglich noch weiter untergräbt und die Abhängigkeit vom Norden verstärkt? Vor der Verschmutzung durch industrielle Abfälle war das Wasser in diesen Ländern noch trinkbar. Und was die Schulen und Gesundheitsstationen anbelangt: Sind diese Institutionen wirklich geeignet, Kultur und Gesundheit zu schützen? Ivan Illich hat da ernsthafte Zweifel angemeldet, übrigens auch mit Blick auf die nördliche Hemisphäre.[5]

Zu Recht betont deshalb der iranische Ökonom Majid Rahnema: „Was man noch immer als Hilfe bezeichnet, ist nur ein finanzieller Zuschuss zur Stärkung der Elend produzierenden Strukturen. Wenn die Opfer dieser Enteignungspolitik jedoch versuchen, sich vom globalisierten Produktionssystem abzukoppeln, um nach Alternativen zu suchen, die ihren eigenen Wünschen entsprechen, ist niemand da, der ihnen Hilfe bietet.“[6]

Eine Alternative zur Entwicklung kann jedoch weder im Süden noch im Norden in der Rückkehr zu Vergangenem bestehen, auch nicht in der pauschalen Durchsetzung von „Nichtwachstum“. Für die Ausgegrenzten und Gestrandeten der Entwicklung geht es nur um eine Art Synthese aus der verloren gegangenen Tradition und einer unerreichbaren Modernität. Die Formulierung klingt paradox, doch sie bezeichnet präzise die doppelte Herausforderung, vor der wir stehen.

Unsere wichtigste Ressource ist dabei der gesellschaftliche Erfindungsreichtum, der sich von allein einstellen wird, sobald wir die Zwangsjacke unserer ökonomistischen Fixierung auf „Entwicklung“ abgelegt haben. „Nach der Entwicklung“ – das ist zwangsläufig vielgestaltig und erzwingt, nach kollektiven Entfaltungsmöglichkeiten zu suchen, die andere Ziele begünstigen als den materiellen Wohlstand auf Kosten der Umwelt und der sozialen Beziehungen.

Was das gute Leben ist, wird je nach Kontext sehr verschieden sein. Im Grunde genommen geht es darum, neue Kulturen aufzubauen. Egal ob dieses Ziel umran (Blüte) heißt wie bei Ibn Kaldun[7]oder swadeshi-sarvodaya (Verbesserung der sozialen Bedingungen für alle) wie bei Gandhi oder bamtaare (es miteinander gut haben) wie bei den westafrikanischen Tukulör oder fidnaa/gabbina (Ausstrahlung einer wohl genährten und sorgenfreien Person) wie bei den äthiopischen Boran[8]– entscheidend ist, dass endlich Schluss ist mit der Zerstörung, die unter dem Etikett Entwicklung oder Globalisierung immer weiter vorangetrieben wird.

Kein Zweifel, dass der Umsetzung von Wachstumsrücknahme im Süden wie im Norden eine regelrechte Entgiftungskur vorangehen muss. Wachstum hat ja die ganze Zeit nicht nur als schädlicher Virus gewirkt, sondern auch als Droge: „Um die Lebenswelt der Menschen zu infiltrieren“, schreibt Majid Rahnema, „bediente sich der erste Homo oeconomicus zweier Methoden, die nicht von ungefähr an das Retrovirus HIV und die Methoden der Drogenhändler erinnern“[9]: die Zerstörung der Immunabwehr und die Schaffung neuer Bedürfnisse. Der Drogenabhängigkeit zu entkommen wird schwer sein, zumal die Händler – in unserem Fall die transnationalen Unternehmen – ein Interesse an der Aufrechterhaltung unseres Sklavendaseins haben. Doch es ist durchaus denkbar, dass der heilsame Schock der Notwendigkeit uns noch rechtzeitig aufrütteln wird.

deutsch von Bodo Schulze

* Emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paris-Süd, Präsident der wachstumskritischen Organisation Ligne d‘horizon. 2004 erschien sein Buch „Survivre au développement“, Paris (Mille et une nuits, Fayard) 2004.

Fußnoten:

1Dazu Serge Latouche, „En finir une fois pour tout avec le développement“, Le Monde diplomatique, Mai 2001, und die Zeitschrift La décroissance. Le Journal de la joie de vivre, Lyon.

2Dazu „Brouillons pour l‘avenir: contributions au débat sur les alternatives“, Les nouveaux Cahiers de l’IUED 14, Paris/Genf (PUF) 2003.

3Jean-Marie Harribey, „Développement durable: le grand écart“, L‘Humanité, 15. 6. 2004; ders., „Das Gerede von der Nachhaltigkeit“, Le Monde diplomatique, Juli 2004.

4Zitiert nach Alain Gras, „Fragilité de la puissance“, Paris (Fayard) 2003, S. 249.

5Ivan Illich, „Die Nemesis der Medizin“, und ders., „Entschulung der Gesellschaft“, beide München (Beck) 1995.

6Majid Rahnema, „Quand la misère chasse la pauvreté“, Paris-Arles (Fayard, Actes-Sud) 2003, S. 268.

7Arabischer Historiker und Philosoph (1332–1406).

8Gudrun Dahl, Gemtchu Megerssa, „The spiral of the Ram‘s Horn: Boran concepts of development“, in: Majid Rahnema u. Victoria Bawtree (Hg.), „The post-development reader“, London (Zbooks) 1997, S. 52 ff.

9Siehe Fußnote 8.