Sorge um die Sozialstandards in Europa

Die EU will die Regularien im Dienstleistungssektor vereinheitlichen. Kritiker befürchten dadurch Nachteile für Verbraucher und Angestellte. Heute beschäftigt sich das Europaparlament mit der geplanten Richtlinie der Kommission

BERLIN taz ■ Eine Initiative für die Öffnung der Dienstleistungsmärkte in der Europäischen Union sorgt für Streit. Während EU-Kommission und Bundesregierung enorme Wachstumspotenziale sehen, warnen Gewerkschaften, Handwerk und Globalisierungskritiker vor Sozialdumping.

Hintergrund ist der so genannte Lissabon-Prozess: Darin haben sich die EU-Staaten vorgenommen, bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Das scheint bislang jedoch nicht so recht zu funktionieren. Als einen Grund dafür hat die EU-Kommission jetzt den Dienstleistungsmarkt ausgemacht. Anders als beim Warenhandel ist der Binnenmarkt für Dienstleistungen nämlich immer noch durch eine Vielzahl von nationalen Regeln geprägt.

Anstatt mühsam Mindeststandards für einzelne Bereiche festzulegen, macht Brüssel einen Vorschlag für nahezu die gesamte Dienstleistungslandschaft: Handel, Handwerk, Baugewerbe, soziale Dienste, Gesundheitssektor und der öffentliche Rundfunk wären davon betroffen. Befürworter der Richtlinie wie die Bundesregierung oder die deutschen Arbeitgeberverbände sehen enorme Wachstumschancen durch diese Art von Entbürokratisierung – schließlich sind rund 70 Prozent aller europäischen Jobs im Dienstleistungssektor angesiedelt.

Kritiker warnen jedoch vor gravierenden Problemen, besonders vor den Folgen des so genannten Herkunftslandprinzips. Bisher mussten sich ausländische Dienstleister an die Regeln des Landes halten, in dem sie arbeiten. Der Kommissionsvorschlag dreht dieses Prinzip um: Es sollen nur noch die Standards des jeweiligen Herkunftslandes gelten. Für Stefan Stork vom Zentralverband des Deutschen Handwerks ist das nicht akzeptabel. „Erst wenn man gleiche Spielregeln für alle geschaffen hat, kann man ausländische Standards anerkennen.“

Auch die Gewerkschaften bekämpfen die geplante Neuregelung. Die Vorsitzende der Europäischen Transportgewerkschaft, Doro Zinke, sieht die größte Gefahr darin, dass sich deutsche Unternehmen im Ausland registrieren lassen könnten. „Die bieten dann in Deutschland die gleichen Dienstleistungen an wie zuvor – aber zu deutlich niedrigeren Standards.“ Dies betreffe unter anderem den Arbeitsschutz, Sozialstandards und Verbraucherschutz.

Die Globalisierungskritiker von Attac wollen ebenfalls gegen die Dienstleistungsrichtlinie mobilisieren. Sie stören sich vor allem an dem Privatisierungsdruck, der jetzt auch Bereiche wie Gesundheitsversorgung und soziale Dienste erreiche.

Bei ihrer Kampagne setzen sie vor allem auf das Europaparlament. Die Chancen, dort Veränderungen am jetzigen Vorschlag zu erreichen, stehen recht gut. Denn vor allem die sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten teilen die Bedenken. „Wenn wir den Vorschlag so lassen würden, wie er jetzt dasteht, dann würden soziale Rechte, Umwelt-, und Verbraucherschutz unterminiert werden“, sagt Evelyne Gebhardt (SPD), die als Berichterstatterin die Stellungnahme des Europaparlaments vorbereiten wird.

Heute werden sich die Europa-Abgeordneten in einer Anhörung erstmals mit den möglichen Auswirkungen der Richtlinie befassen, in zwei Wochen steht das Thema bei den EU-Wirtschaftsministern auf der Tagesordnung. Anfang 2005 soll dann abgestimmt werden.

NIKOLAI FICHTNER