Auf Kosten des Mediums

Etwas läuft schief im Kinosaal: Der Film steckt in der Sackgasse, ist eingekeilt zwischen Multiplex, Fernsehen und Festival-Ghetto und biedert sich vorauseilend einem Markt an, den er ohnehin nicht hat. Versuch einer Zustandsbeschreibung

VON CHRISTOPH HOCHHÄUSLER

Der Film hat noch immer Macht. Vielleicht war sein Einfluss nie größer. Aber seit das Kino wirklich überall ist, in jedem Winkel der Erde, in der U-Bahn und am Handgelenk, und es keiner Anstrengung mehr bedarf, einen Film zu sehen (eher scheint die Enthaltsamkeit mühsam), ist das Medium seltsam formlos geworden, ohne klares Bewusstsein für seine Möglichkeiten und ohne gesellschaftliche Perspektive.

Drei (scheinbar) gegensätzliche Modelle beherrschen den Markt. Das erste Modell nennt man gerne Hollywood. Gemeint ist die industrielle Produktion von Kinofilmen nach Maßgabe der Profitinteressen großer Konzerne. Der kommerzielle Erfolg und die Reichweite stehen im Mittelpunkt, unabhängig von Inhalten. Die Folge sind effektsüchtige Vermischungen aller formalen Optionen und eine hysterische Deformation der Dramaturgien, die die teuren Schauwerte nur noch additiv organisieren. Die Filme werden von einem Look, nicht von Sinn zusammengehalten. Die Frage nach dem finanziellen Erfolg wirkt wie ein Magnet, von dem sich nur die „metallischen“, harten, hochwirksamen Mittel angezogen fühlen; die subtile Abstufung in der Beschreibung der Welt, die „Suche nach Wahrheit“ bleiben unberücksichtigt, ja, die Sehnsucht nach Effizienz löst die Verbindlichkeiten auf, die die Erzählung selbst konstituieren. Der Kapitalismus wirkt als eine antinarrative Zentrifuge, in der sich nur noch Bruchstücke von Bedeutung behaupten.

Das zweite Modell nennt man gerne „europäisch“. Gemeint ist die „Filmkunst“, die sich gerne von öffentlichen Förderungen aushalten lässt und auf Festivals und in anderen cinephilen Nischen ihr Dasein fristet. Die Währung heißt Originalität, und auch dieser Horizont hat Produkte hervorgebracht, die keine erzählerische Wahrheit, sondern nur noch Wirkungsinteressen kennen. Aber da weniger Geld zur Verfügung steht und andere Geschmäcker zu befriedigen sind, geht es in der Regel darum, „Tabus“ zu brechen oder mit den Erinnerungen an andere Filme ein ironisches Spiel zu treiben. Die Lesart „Künstlerischer Film“ produziert ein falsches Einverständnis kultureller Eliten – und dieser „Edelkonsens“ spiegelt sich in den Konventionen des Kunstfilms wider. Die Schwierigkeit des Kunstfilms scheint gerade seine „Freiheit“ zu sein, die der Bequemlichkeit Vorschub leistet.

Das dritte Modell ist der Fernsehfilm, der die Formen des Kinos gleichzeitig bewundernd nachahmt und verharmlost. Anders als für den Kinobesuch richtet sich die Energie jedoch nicht danach, wie der Zuschauer angezogen werden kann, vielmehr will man dem Publikum keinen Grund geben, umzuschalten. Entsprechend nervös ist das Fernsehen bemüht, seine eigene Attraktivität im 30-Sekunden-Rhythmus zu beweisen, ohne durch Inhalte oder Mittel, die nur im Kontext wirken könnten, vor den Kopf zu stoßen. Bei den privaten Sendern kommt das Interesse hinzu, der Werbung, von der man lebt, ein gutes Umfeld zu bieten. Folgerichtig verbieten sich große Kontraste oder nichtserielle Dramaturgien, die eine Unterbrechung als Störung erkennen lassen.

Deutschland wird, wie es scheint, von einer besonders zählebigen Mischung der genannten Varianten beherrscht, wobei der „Kunstfilm“ abseits der Festivals keine große Rolle spielt. In deutschen Kinos ist zu über 85 Prozent Hollywood-Ware zu sehen, aber der deutsche Film selbst wird weder von einer marktrationalen Logik regiert, noch ist er filmkulturell orientiert. Vielmehr biedert er sich vorauseilend und kleinlich einem Markt an, den er nicht hat, und verbirgt gleichzeitig schamhaft die Grellheiten mit dem Argument der Kultur. Das Fernsehen als letztlich einzig relevanter Verwerter der in Deutschland hergestellten Filme bemüht sich dabei, die eigene Einflussnahme klein zu reden – verantwortlich möchte man nicht gemacht werden, denn das verdirbt die Preise. Die Zahlen aber erzählen etwas anderes: den jährlich 200 Millionen Euro Filmförderung stehen 6,5 Milliarden (öffentlich-rechtliche) Gebührengelder gegenüber; hinzu kommen die Einnahmen aus der Werbung und dem Bezahlfernsehen. Kurz: Ohne das Fernsehen ist im deutschen Film nichts zu machen. Und das erste Interesse des Fernsehens ist das Fernsehen.

Die Festivals dagegen haben den „anspruchsvollen“ Film aus der Gesellschaft herausgelöst und zu einem Ereignis ohne Bodenhaftung gemacht. Das Kinoprogramm verödet, weil die Vielfalt im Ghetto der Festivals aufgehoben scheint. Und das Festivalpublikum, von den Gurus der Cinephilie eingeschüchtert, ist im Einerlei der Delikatessen blind für das Wesentliche geworden.

Beide Welten, der fernseh-industrielle Komplex und das Festivalwesen, sind auf ihre Weise sehr erfolgreich und folglich nicht so ohne Weiteres zu überwinden. Ihr Erfolg aber geht auf Kosten des Mediums Film, zu Lasten der Zuschauer, und darf uns deshalb nicht abhalten, für ein anderes Kino zu streiten.

Ich sehne mich nach einem Kino, das nichts zu tun hat mit dem guten Geschmack der Kenner oder dem schlechten Atem populistischer Anbiederung. Ein Kino, für das der kommerzielle Erfolg ein Indikator von vielen ist, aber niemals das Ziel der ganzen Unternehmung. Ein Kino, in dessen Zentrum Fragen, Bedürfnisse, Probleme, Energien des Lebens stehen. Das gesellschaftlich eine reale kommunikative Rolle spielt. Ein Kino, das diskursiv ist … und sein will.

Das Ziel ist ein Kino, das intensivierend auf das Leben wirkt.

Christoph Hochhäusler ist Regisseur und Mitherausgeber der Zeitschrift „Revolver“. Sein Langfilmdebüt „Milchwald“ ist ab heute in den Berliner Kinos Moviemento und Central zu sehen