100 Stundenkilometer

Dilettantismus war schuld am tödlichen Unfall. Aber nicht allein: Der Castor-Zug fuhr extrem schnell

PARIS taz ■ Über die französischen Grenzen hinaus hat der Tod des 23-jährigen Aktivisten Sébastien Briard die Mitglieder und Sympathisanten der Bewegung gegen Atomenergie schockiert. Nach der anfänglichen Fassungslosigkeit suchen Atomgegner eine Erklärung sowie nach eventuellen Schuldigen.

Gilbert Poirot von der Gruppe „Sortir du nucléaire“ wies darauf hin, dass der Zug mit fast 100 Stundenkilometern fuhr. Der Verdacht drängt sich auf, dass er die Verspätung aufholen sollte, die er wegen einer anderen Blockade am Vormittag hatte. Diese Ansicht teilte gestern in Libération auch ein Bahngewerkschafter von SUD-Rail. Die Staatsanwaltschaft in Nancy hat inzwischen eine Untersuchung des Fahrtenschreibers in dem Zug angeordnet. Am Vortag hatte Staatsanwalt Michel Senthille bekannt gegeben, dass der Castor-Zug mit 98 Stundenkilometern gefahren sei.

Die französischen Grünen verlangen nun ein sofortiges Moratorium für diese umstrittenen Sondertransporte zwischen der Wiederaufbereitungsanlage von La Hague und der Lagerstätte in Gorleben. Die Firma Cogema, die in ihrer Wiederaufbereitungsanlage vertragsgemäß Brennstäbe aus deutschen Kernkraftwerken verarbeitet, ist sich keiner Schuld bewusst. Die Verantwortung liege bei der staatlichen Bahngesellschaft SNCF, sagte der Sprecher der Cogema: „Es trifft zu, dass eine absolute Sicherheit nicht existiert. Drakonische Regeln gelten für diese Transporte. Wir sind jedoch empört über das untypische Verhalten bei gewissen Aktionen. Seit Jahren riskieren die Taucher von Greenpeace eine Katastrophe, wenn sie bei hohem Wellengang in der Nähe von La Hague tauchen oder wenn sich (andere Aktivisten) an den Kränen im Hafen von Cherbourg anketten. Man kann doch nicht so tun, als handelte es sich um ein Spiel!“

Normalerweise werden solche Blockaden minutiös vorbereitet. Die Gruppe von Avricourt missachtete mit einem eher dilettantisch anmutenden Vorgehen die üblichen Vorsichtsregeln. Sie befand sich am Ausgang einer Kurve. Auch war angeblich niemand postiert, um den heranrasenden Zug rechtzeitig zu warnen. Lücken existierten auch in der Überwachung. Der Helikopter, der normalerweise den Zug begleitet und Hindernisse melden kann, war im fraglichen Moment weggeflogen, um aufzutanken. Und die Gendarmen, die zuvor auf Motorrädern zur Kontrolle die Strecke abfuhren, hatten nichts Ungewöhnliches bemerkt. Noch stellen sich viele Fragen über die Umstände des Dramas von Avricourt. Die Kontroverse über die zulässigen Risiken bei diesen Formen des passiven Widerstands aber ist eröffnet. RUDOLF BALMER