Auch der Tod bringt keine Ruhe

In Frankreich hat der Castor-Transport einen Demonstranten das Leben gekostet – trotzdem können sich deutsche Polizei und Blockierer nicht auf ein „gemeinsames Innehalten“ einigen. Die Bahn pocht auf Einhaltung des Fahrplans

AUS DANNENBERG MARCO CARINI

An vielen Straßenkreuzungen brennen Kerzen. Alle Aktionen, die bunt und laut den Protest gegen den anrollenden Castor-Transport deutlich machen sollten, sind abgesagt. Einen Tag nachdem ein an die Schienen geketteter französischer Atomgegner vom Atommüllzug überrollt wurde, bestimmt stille Trauer die Szene. Zugleich ist Wut zu spüren bei den verschiedenen Anti-Castor-Gruppen und Umweltorganisationen, die im Wendland gegen die strahlende Fracht protestieren. Sie suchen nach einer angemessenen Antwort. Klar ist: Der Widerstand wird sich angesichts des Unglücks verändern.

Vertreter der Demonstranten gehen davon aus, dass viele in Niedersachsen geplanten Gleisblockaden von den Initiatoren kurzfristig abgesagt werden. Trotzdem bringen Atomgegner, die sich an die Schienen gekettet haben, um elf Uhr kurz vor Uelzen den Zug das erste Mal zum Stehen. Knapp zwei Stunden später werden bei Harlingen die Gleise erneut blockiert und Aktivisten spannen ein „Widerstandsnetz“ aus Fäden über die Bahnstrecke.

Aus Angst vor einer Eskalation des Protests hatten sich am Sonntagabend Vertreter der niedersächsischen Polizei und des Bundesgrenzschutzes mit Vertretern der Anti-Atom-Gruppen getroffen, die auf gewaltfreien Widerstand setzen. Die Atomgegner forderten dabei den polizeilichen Einsatzleiter Friedrich Niehörster zu einem „gemeinsamen Innehalten“ auf. Der Zug sollte für mehrere Stunden angehalten, zugleich der Protest ausgesetzt werden. Niehörster sah sich aber außerstande, die vor allem von Kirchenvertretern gestellte Forderung zu erfüllen, da der von der Deutschen Bahn vorgegebene Zeitkorridor für den Schienentransport eng sei. „Uns wird keine Zeit gegeben, dieses schreckliche Unglück zu verarbeiten und mit halbwegs kühlem Kopf den Widerstand fortzusetzen“, klagt Jochen Stay von der Gruppe X-tausendmal quer.

„Die Gefühle der Menschen im Wendland werden durch den ankommenden Zug einfach überrollt.“ Von Freunden des getöteten Franzosen seien „Signale“ gekommen, dass es nicht in seinem Sinne gewesen wäre, den Widerstand resigniert abzubrechen, heißt es bei der Gruppe. Dieter Melk von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg ist empört darüber, dass „der Todeszug weiterrollt, als wäre nichts geschehen, statt innezuhalten“.

Die Sicherheit der Demonstranten, die versuchen, auf die Schienen zu gelangen, spielte bei den Gesprächen keine Rolle. Anders als bei dem Todesfall in Frankreich rollt der Castor-Zug im Wendland nicht im Eiltempo über die Gleise. Die gesamte Strecke ist durch Polizei und Grenzschutz kleinräumig gesichert und überwacht. Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg wies jedoch darauf hin, dass der Versuch, erstmals zwölf Atommüllbehälter gleichzeitig über die Schiene zu transportieren, auf Kosten der Sicherheit geht: Der von drei Lokomotiven angeschobene, 2.300 Tonnen schwere Zug hat bei rund 100 Stundenkilometern einen Bremsweg von fast einem Kilometer.

Schon am Sonntagabend war es in mehr als zwei Dutzend bundesdeutschen Städten zu spontanen Trauerkundgebungen angesichts des Todesfalls gekommen. Die Bäuerliche Notgemeinschaft blockierte am Sonntagabend spontan mit etwa 25 Traktoren die mögliche Castor-Straßenstrecke bei Langendorf, am Montagmittag gesellte sich eine zweite Treckerblockade auf der möglichen Alternativroute in Groß Gusborn hinzu. Am Montagnachmittag fand in Splietau zudem eine weitere Gedenkveranstaltung für den verstorbenen Atomkraftgegner statt. Die Wendländer Widerstandsgruppen erwarten, dass der gestern trotz zahlreicher Störmanöver in Dannenberg angelandete Atommüll am frühen Dienstagmorgen per Tiefladerkonvoi die letzten 19 Kilometer Straßenstrecke in Angriff nehmen wird.

MARCO CARINI, gebürtiger Hamburger und langjähriger taz-Autor, war gestern im Wendland