„Die Tat eines Einzelnen“

Kein Drama des Multikulturalismus: Der holländische Soziologe Thijl Sunier über den Mord an Theo van Gogh und seine Auswirkungen auf die Debatten um Integration und Islam in den Niederlanden

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Sunier, der brutale Mord an dem Regisseur Theo van Gogh hat die Niederlande geschockt. Wie sehen Sie die Tat?

Es scheint wirklich jemand gewesen zu sein, der sich durch den Islam zu seiner Tat angetrieben gefühlt hat. Und ich fürchte, ein einzelner Verrückter kann mit so einer Tat viel Schaden anrichten.

Welchen Schaden befürchten Sie denn noch?

Was ich befürchte ist, dass Fragen der Integration von Immigranten damit vermengt werden. Wie Sie wissen, wird darüber in den Niederlanden derzeit eine hitzige Debatte geführt. Und dann gibt es noch eine andere Debatte darüber, was der Platz des Islam in der holländischen Gesellschaft ist.

Gehören diese Debatten nicht tatsächlich zusammen?

Nein. Die Frage nach dem Mord an Theo van Gogh ist, wie man mit dem islamistischen Extremismus umgeht. Nach dem Mord an Pim Fortuyn hat man ja auch nicht den Tierschutz mit der Tat zusammengebracht, auch wenn der Täter offenbar ein radikaler Tierschützer war. Wir müssen da klar differenzieren: Es war die individuelle Tat eines Einzelnen.

Wie kann man solche radikalen Islamisten in der Griff bekommen?

Das ist schwer. So wie in Deutschland gibt es auch bei uns jede Art von Organisationen, das Spektrum der muslimischen Verbände ist vielleicht noch breiter als das der christlichen. Man muss akzeptieren, dass es einfach einen gewissen Anteil der Bevölkerung, der offen ist für radikale Ideen. Das hat sicher auch mit ökonomischen Faktoren zu tun, mit dem Ausschluss von bestimmten materiellen Privilegien. Das macht es einfach, sich für eine radikale Ideologie zu begeistern.

Ist das Attentat auch Ausdruck eines spezifisch holländischen Problems?

Ich lehne den Gedanken ab, dass es eine besondere Gemengelage in Holland ist, die zu solchen dramatischen Zwischenfällen führt. Wir haben es hier mit einem sehr tragischen Ereignis zu tun.

Viele Holländer sagen: Wir waren zu liberal, unsere Integrationspolitik ist gescheitert.

Ja, aber ich teile diese Auffassung nicht. Gerade wurde im Parlament ein Papier debattiert, dass die Integrationspolitik der letzten 25 Jahre zusammenfasste. Das Fazit war: Wir haben eine ganze Menge erreicht. Man sollte also nicht die gesamte Integrationspolitik für solche Dramen verantwortlich machen.

Warum ist dieses Argument trotzdem so verbreitet?

Das hat vielleicht doch mit einer holländischen Besonderheit zu tun. Andere Länder wie Deutschland oder Frankreich hatten eben bei weitem keine so elaborierte Integrationspolitik wie die Niederlande.

Wenn dann trotzdem etwas schief geht, wird gleich das ganze System in Frage gestellt?

Ja, die meisten Zeitungskommentare gehen in diese Richtung: Wir waren zu weich.

War das nicht der Fall?

Nein, das denke ich nicht. Weil man nie vorhersehen kann, welche Maßnahmen man hätte ergreifen sollen. Wenn mir jemand sagt, man hätte in bestimmten Dingen härter durchgreifen müssen, dann frage ich: In welchen Dingen? Was wäre denn die Alternative gewesen?

Welche Rolle spielen denn Migranten in dieser Debatte?

Man sieht in den Niederlanden wie auch in Deutschland, dass hier eine neue Elite entsteht. Sie nimmt Stellung zu bestimmten Themen und Debatten – das ist, was sie tun kann. Viele muslimische Organisationen in Holland haben sich von reinen Migrantenverbänden, die vor allem soziale Aufgaben übernahmen, zu politischen Akteuren entwickelt, die eine repräsentative Funktion haben. Gerade die Muslime müssen akzeptieren, dass ihre Religion zum Thema öffentlicher Debatten geworden ist. Sie müssen sich also die notwendigen kommunikativen Fähigkeiten aneignen, um am öffentlichen Diskurs teil zu nehmen. Die Ermordung von Theo van Gogh hat dies noch dringlicher gemacht.

Was können muslimische Immigranten gegen den Radikalismus in ihren Kreisen tun?

Sie tun eine Menge. Ich kenne eine Menge von Moscheevereinen und Organisationen, die in dieser Hinsicht sehr aktiv sind.

Welche Stellung hat denn der Islam in Holland?

Das ist sehr kompliziert. Wir hatten in Holland das so genannte Säulen-System, nachdem die Gesellschaft auf den diversen Säulen konfessioneller Gemeinschaften beruht. Dieses Modell ist seit den Sechzigerjahren im steten Niedergang begriffen. Aber es gibt noch einen Habitus, der aus dieser Zeit stammt. Das sieht man an der Debatte über den Islam in Holland: Da werden Argumente benutzt, als wäre der Islam eine Säule der Gesellschaft.

Ist er das nicht?

Das ist die Frage. Es gibt bei uns etwa islamische Schulen, die werden von einer Schulverwaltung ganz sorgfältig überprüft, so wie jüdische und christliche Schulen auch. Trotzdem denken manche Leute, hier würde ein radikaler Islam gelehrt.

Wie wirkt sich dieses Säulen-System heute noch aus?

Die Grundlage war einst, dass sich der Staat keine öffentliche Wohlfahrt bereit stellte: Die Kirchen kümmerten sich um die Armen, Alten und Kranken. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Wohlfahrtsstaat aufkam, hat sich das geändert.

Die Verfassung garantiert die Gleichheit der Religionen. Gleichheit wird hier eher definiert als Gleichberechtigung der unterschiedlichen Gemeinschaften – anders als in Frankreich, wo stärker auf die individuelle Gleichheit abgehoben wird. Manche denken deshalb, unser System hätte Ähnlichkeiten mit dem Multikulturalismus in Großbritannien. Aber wir hatten nie eine multikulturelle Gesellschaft. Muslime wurden zwar als eine homogene Gruppe angesehen. Aber das ist kein Multikulturalismus im eigentlichen Sinne.