Hinter den sieben Hügeln

Mit dem dritten Teil seines „Heimat“-Zyklus schließt der Regisseur Edgar Reitz seine monumentale Reihe ab. Er scheitert jedoch, weil er keine Gelegenheit auslassen kann, noch das kleinste nationale Symbol zu einem Teil seiner Erzählung zu machen

VON CLEMENS NIEDENTHAL

„Wo ist zu Hause, Mama?“, hat sich Johnny Cash, der große heimatlose Erzähler einmal gefragt. Und Edgar Reitz hat ihm mit seiner „Heimat“ eine Antwort gegeben. Damals, im Orwelljahr 1984. Denn in „Heimat“, jener epischen, aber immer auch intimen Ethnografie eines inkompletten Jahrhunderts, war gerade die Mama das Zuhause. Nur konsequent also, die Geschichten aus dem Hunsrück-Dorf Schabbach, dem globalen Dorf Deutschland und aus den Fotoalben der Familie Simon eben mit dem Tod der Mutter enden zu lassen. In „Heimat 3“, jener „Chronik einer Zeitwende“, die dieser Tage in ausgewählte Kinos und im Dezember in einer gekürzten Fassung ins ARD-Programm kommt, ist ihr Hof längst verlassen. Die Türe vernagelt.

„Maria Simon, 1900–1982“, stand nach elf Folgen und knapp 900 Fernsehminuten auf ihrem Grabkreuz. Ein Leben zwischen Kaiser Wilhelm und Helmut Kohl. Und es passte gut in die kollektive Vorstellung von einer Provinz hinter den sieben Hunsrück-Hügeln, dass die weite Welt in Schabbach immer ein wenig zeitverzögert vorbeischauen sollte. Oder dass die Schabbacher umgekehrt ins Stolpern gerieten, wenn sie der Welt entgegengerannt sind. Die 5.000 Kilometer aus dem sibirischen Kriegsgefangenlager zurück in sein Schabbach hat Anton Simon, ältester Sohn der Maria, noch zu Fuß bewältigt. 50 Jahre später nun chauffiert eine S-Klasse den ergrauten Fabrikdirektor ziemlich verloren durch eine farblose Mittelgebirgslandschaft. Bald schon wird es mit Anton Simon und seinen Optischen Werken zu Ende gehen. Der eine erliegt seinem verbissenen, selbstgerechten Habitus, die anderen den postfordistischen Wirtschaftspraktiken der global organisierten Konkurrenz.

Vorher aber müssen noch Mauerbrocken gestemmt und zu deutschen Geschichtsbildern gemeißelt werden. Weshalb die „Chronik einer Zeitenwende“ gleich mit einem Missverständnis beginnt: Edgar Reitz und sein Mitautor Thomas Brussig begreifen den 9. November 1989 nicht als jenen buchstäblich exzentrischen, kaum greifbaren Moment, als der er damals in der westdeutschen Provinz tatsächlich angekommen ist. Anstatt im nachkommenden Frühling einen ersten Trabant durch den Hunsrück knattern zu lassen, stellen sie Hermann Simon, jüngster Sohn der Maria, direkt unter das Brandenburger Tor.

Für ihn, den Weltläufigen, den Avantgardekomponisten, den Heimatflüchtling, wird ausgerechnet die überwältigende Erfahrung einer Gleichzeitigkeit von historischem und erlebtem Ereignis zum Beginn einer neuerlichen Heimkehr. Immerhin deuten Reitz und Brussig an, dass das romantische Fachwerkhaus hoch über dem Rhein auch ein Fluchtpunkt sein könnte. Mit Aussicht auf die Lorelei, die einmal mehr als Schicksalsfelsen herhalten muss.

Hermann war und bleibt das Lieblingskind von Edgar Reitz, sein Alter Ego gar. Weswegen ihm der 71-jährige Regisseur auch eine ganz eigene Heimat auf den feinsinnigen Leib geschrieben hatte. „Die zweite Heimat“ erzählte von einem, der aufgebrochen war. Und von einer Gesellschaft, der es gerade ganz ähnlich ging. Erzählte vom hoch begabten, zweifelnden Jungen aus der Provinz und vom beschleunigten Leben einer Schwabinger Boheme der Sechziger. Kurz vor den Studentenunruhen. Kurz vor Hermann Simons Karriere im Hochkulturbetrieb. In „Heimat 3“ soll er, der gleich in der ersten Einstellung die Berliner Philharmonie durch den Künstlereingang verlässt, gar eine staatstragende Vereinigungssymphonie komponieren.

Indes will es mit dem Vereinigen nicht so recht klappen. Nicht in der Familie Simon, die mehr und mehr zum Abziehbild eines Dieter-Wedel’schen Episodendramas verkommt. Nicht mit Ost und West, deren Begegnungen, wie von „Sonnenallee“-Autor Brussig gewohnt, einzig den Bedingungen der Pointe gehorchen. Schon gar nicht mit dem medialen Mythos „Heimat“, vor zwanzig Jahren ein Straßenfeger einer kollektiven Geschichtsbesichtigung. Immer wieder verschluckt sich „Heimat 3“ an seinem Versuch, jedes nationale Projekt zum Teil seiner Geschichte zu machen.

Letztlich sei doch der Tod „die einzige Wahrheit, die es gibt in dieser beschissenen Welt“, wird Ernst, der dritte Sohn Marias, an einer der angenehm leisen Stellen einmal sagen. Heimat bietet solche Wahrheiten längst nicht mehr. Nicht in einem Dorf im Hunsrück, nicht als Projekt medialer Selbstvergewisserung. Aber vielleicht liegt die Wahrheit ja auch auf dem Platz. Beim Spiel des FC Schabbach gegen den Bezirksliga-Konkurrenten aus Bad Kreuznach. Eine der ganz einfachen, unverstellten Perspektiven, denen Edgar Reitz viel zu selten vertraut.

„Heimat 3“. Regie: Edgar Reitz, D 2002–2003, 680 Min.